Zur Sommerszeit giengen einmal der Bär und der Wolf im Wald spazieren, da hörte der Bär so schönen Gesang von einem Vogel, und sprach 'Bruder Wolf, was ist das für ein Vogel, der so schön singt?' 'Das ist der König der Vögel,' sagte der Wolf, 'vor dem müssen wir uns neigen;' es war aber der Zaunkönig. 'Wenn das ist,' sagte der Bär, 'so möcht ich auch gerne seinen königlichen Pallast sehen, komm und führe mich hin.' 'Das geht nicht so, wie du meinst,' sprach der Wolf, 'du mußt warten bis die Frau Königin kommt.' Bald darauf kam die Frau Königin, und hatte Futter im Schnabel, und der Herr König auch, und wollten ihre Jungen ätzen. Der Bär wäre gerne nun gleich hinterdrein gegangen, aber der Wolf hielt ihn am Ermel, und sagte 'nein, du mußt warten bis Herr und Frau Königin wieder fort sind.' Also nahmen sie das Loch in Acht, wo das Nest stand, und giengen wieder ab. Der Bär aber hatte keine Ruhe, wollte den königlichen Pallast sehen, und gieng nach einer kurzen Weile wieder vor. Da waren König und Königin wieder ausgeflogen, er guckte hinein, und sah fünf oder sechs Junge, die lagen darin. 'Ist das der königliche Pallast!' rief der Bär, 'das ist ein elender
102. Der Zaunkönig und der Bär.
Zur Sommerszeit giengen einmal der Bär und der Wolf im Wald spazieren, da hörte der Bär so schönen Gesang von einem Vogel, und sprach ‘Bruder Wolf, was ist das für ein Vogel, der so schön singt?’ ‘Das ist der König der Vögel,’ sagte der Wolf, ‘vor dem müssen wir uns neigen;’ es war aber der Zaunkönig. ‘Wenn das ist,’ sagte der Bär, ‘so möcht ich auch gerne seinen königlichen Pallast sehen, komm und führe mich hin.’ ‘Das geht nicht so, wie du meinst,’ sprach der Wolf, ‘du mußt warten bis die Frau Königin kommt.’ Bald darauf kam die Frau Königin, und hatte Futter im Schnabel, und der Herr König auch, und wollten ihre Jungen ätzen. Der Bär wäre gerne nun gleich hinterdrein gegangen, aber der Wolf hielt ihn am Ermel, und sagte ‘nein, du mußt warten bis Herr und Frau Königin wieder fort sind.’ Also nahmen sie das Loch in Acht, wo das Nest stand, und giengen wieder ab. Der Bär aber hatte keine Ruhe, wollte den königlichen Pallast sehen, und gieng nach einer kurzen Weile wieder vor. Da waren König und Königin wieder ausgeflogen, er guckte hinein, und sah fünf oder sechs Junge, die lagen darin. ‘Ist das der königliche Pallast!’ rief der Bär, ‘das ist ein elender
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102.
Der Zaunkönig und der Bär.
Zur Sommerszeit giengen einmal der Bär und der Wolf im Wald spazieren, da hörte der Bär so schönen Gesang von einem Vogel, und sprach ‘Bruder Wolf, was ist das für ein Vogel, der so schön singt?’ ‘Das ist der König der Vögel,’ sagte der Wolf, ‘vor dem müssen wir uns neigen;’ es war aber der Zaunkönig. ‘Wenn das ist,’ sagte der Bär, ‘so möcht ich auch gerne seinen königlichen Pallast sehen, komm und führe mich hin.’ ‘Das geht nicht so, wie du meinst,’ sprach der Wolf, ‘du mußt warten bis die Frau Königin kommt.’ Bald darauf kam die Frau Königin, und hatte Futter im Schnabel, und der Herr König auch, und wollten ihre Jungen ätzen. Der Bär wäre gerne nun gleich hinterdrein gegangen, aber der Wolf hielt ihn am Ermel, und sagte ‘nein, du mußt warten bis Herr und Frau Königin wieder fort sind.’ Also nahmen sie das Loch in Acht, wo das Nest stand, und giengen wieder ab. Der Bär aber hatte keine Ruhe, wollte den königlichen Pallast sehen, und gieng nach einer kurzen Weile wieder vor. Da waren König und Königin wieder ausgeflogen, er guckte hinein, und sah fünf oder sechs Junge, die lagen darin. ‘Ist das der königliche Pallast!’ rief der Bär, ‘das ist ein elender
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Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder und Hausmärchen. 5. Aufl. Bd. 2. Göttingen, 1843, S. 100. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen02_1843/110>, abgerufen am 22.02.2025.
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