Vor alten Zeiten, als der liebe Gott selber auf Erden unter den Menschen wandelte, trug es sich zu, daß er eines Abends müd war und ihn die Nacht überfiel, eh' er zu einer Herberge kommen konnte. Da standen aber auf dem Weg vor ihm zwei Häuser einander gegenüber, eins groß und schön, das andere klein und ärmlich anzusehen, und gehörte das eine einem reichen, das andere einem armen Manne. Unser Herr Gott dachte, dem Reichen werd' ich nicht beschwerlich fallen und klopfte bei ihm an die Thüre. Da machte der Reiche sein Fenster auf und fragte, was er wollte? "Ein Nachtlager." Der Reiche guckte ihn an vom Haupt bis zu den Füßen und weil der liebe Gott schlichte Kleider trug und nicht aussah wie einer, der viel Geld in der Tasche hat, schüt- telte er mit dem Kopf und sprach: "ich kann euch nicht aufnehmen, meine Kammern liegen voll Samen und sollte ich jedermann herbergen, der an meine Thüre klopfte, so müßt ich selber bald
Kindermärchen II. A
1. Der Arme und der Reiche.
Vor alten Zeiten, als der liebe Gott ſelber auf Erden unter den Menſchen wandelte, trug es ſich zu, daß er eines Abends muͤd war und ihn die Nacht uͤberfiel, eh’ er zu einer Herberge kommen konnte. Da ſtanden aber auf dem Weg vor ihm zwei Haͤuſer einander gegenuͤber, eins groß und ſchoͤn, das andere klein und aͤrmlich anzuſehen, und gehoͤrte das eine einem reichen, das andere einem armen Manne. Unſer Herr Gott dachte, dem Reichen werd’ ich nicht beſchwerlich fallen und klopfte bei ihm an die Thuͤre. Da machte der Reiche ſein Fenſter auf und fragte, was er wollte? „Ein Nachtlager.“ Der Reiche guckte ihn an vom Haupt bis zu den Fuͤßen und weil der liebe Gott ſchlichte Kleider trug und nicht ausſah wie einer, der viel Geld in der Taſche hat, ſchuͤt- telte er mit dem Kopf und ſprach: „ich kann euch nicht aufnehmen, meine Kammern liegen voll Samen und ſollte ich jedermann herbergen, der an meine Thuͤre klopfte, ſo muͤßt ich ſelber bald
Kindermärchen II. A
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1.
Der Arme und der Reiche.
Vor alten Zeiten, als der liebe Gott ſelber auf
Erden unter den Menſchen wandelte, trug es ſich
zu, daß er eines Abends muͤd war und ihn die
Nacht uͤberfiel, eh’ er zu einer Herberge kommen
konnte. Da ſtanden aber auf dem Weg vor ihm
zwei Haͤuſer einander gegenuͤber, eins groß und
ſchoͤn, das andere klein und aͤrmlich anzuſehen,
und gehoͤrte das eine einem reichen, das andere
einem armen Manne. Unſer Herr Gott dachte,
dem Reichen werd’ ich nicht beſchwerlich fallen
und klopfte bei ihm an die Thuͤre. Da machte
der Reiche ſein Fenſter auf und fragte, was er
wollte? „Ein Nachtlager.“ Der Reiche guckte
ihn an vom Haupt bis zu den Fuͤßen und weil der
liebe Gott ſchlichte Kleider trug und nicht ausſah
wie einer, der viel Geld in der Taſche hat, ſchuͤt-
telte er mit dem Kopf und ſprach: „ich kann euch
nicht aufnehmen, meine Kammern liegen voll
Samen und ſollte ich jedermann herbergen, der
an meine Thuͤre klopfte, ſo muͤßt ich ſelber bald
Kindermärchen II. A
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Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder- und Haus-Märchen. Bd. 2. Berlin, 1815, S. [1]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen02_1815/22>, abgerufen am 18.11.2024.
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