Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder- und Haus-Märchen. 2. Aufl. Bd. 1. Berlin, 1819.und der alte sprach: "ich kanns nicht glauben, daß meine Tochter so schlecht soll gehandelt haben," und hieß sie beide in eine verborgene Kammer gehen, da sollten sie sich vor jedermann heimlich halten. Bald darauf landete die Frau mit dem großen Schiff und kam vor ihren Vater mit ganz betrübtem Gesicht. Sprach er: "meine Tochter, warum kommst du allein, wo ist dein Mann?" "Ach, antwortete sie, wie in großer Trauer, er ist plötzlich auf dem Meer krank geworden und gestorben; dieser gute Schiffer hat mir beigestanden und weiß, wie alles zugegangen ist." Da öffnete der König die Kammer und hieß die beiden herausgehen und als sie ihren Mann erblickte, war sie wie vom Donner berührt und sank auf die Knie und rief um Gnade. Der König aber sprach: "da ist keine Gnade, er hat für dich sterben wollen und du hast ihn im Schlaf umgebracht, du sollst deinen verdienten Lohn haben. Da ward sie mit dem Schiffer in ein löcheriges Schiff gesetzt und ins Meer hinausgetrieben. 17.
Die weiße Schlange. Es war ein mächtiger und weiser König, der ließ sich jeden Mittag, wenn von der Tafel alles abgetragen und niemand mehr zugegen war, von einem seiner ersten Diener noch eine verdeckte Schüssel bringen, davon aß er ganz allein, deckte sie selbst wieder zu und kein Mensch wußte, was darunter lag. Nun trug sich zu, daß der Diener, als ihm der König einmal die Schüssel fortzutragen und der alte sprach: „ich kanns nicht glauben, daß meine Tochter so schlecht soll gehandelt haben,“ und hieß sie beide in eine verborgene Kammer gehen, da sollten sie sich vor jedermann heimlich halten. Bald darauf landete die Frau mit dem großen Schiff und kam vor ihren Vater mit ganz betruͤbtem Gesicht. Sprach er: „meine Tochter, warum kommst du allein, wo ist dein Mann?“ „Ach, antwortete sie, wie in großer Trauer, er ist ploͤtzlich auf dem Meer krank geworden und gestorben; dieser gute Schiffer hat mir beigestanden und weiß, wie alles zugegangen ist.“ Da oͤffnete der Koͤnig die Kammer und hieß die beiden herausgehen und als sie ihren Mann erblickte, war sie wie vom Donner beruͤhrt und sank auf die Knie und rief um Gnade. Der Koͤnig aber sprach: „da ist keine Gnade, er hat fuͤr dich sterben wollen und du hast ihn im Schlaf umgebracht, du sollst deinen verdienten Lohn haben. Da ward sie mit dem Schiffer in ein loͤcheriges Schiff gesetzt und ins Meer hinausgetrieben. 17.
Die weiße Schlange. Es war ein maͤchtiger und weiser Koͤnig, der ließ sich jeden Mittag, wenn von der Tafel alles abgetragen und niemand mehr zugegen war, von einem seiner ersten Diener noch eine verdeckte Schuͤssel bringen, davon aß er ganz allein, deckte sie selbst wieder zu und kein Mensch wußte, was darunter lag. Nun trug sich zu, daß der Diener, als ihm der Koͤnig einmal die Schuͤssel fortzutragen <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0156" n="92"/> und der alte sprach: „ich kanns nicht glauben, daß meine Tochter so schlecht soll gehandelt haben,“ und hieß sie beide in eine verborgene Kammer gehen, da sollten sie sich vor jedermann heimlich halten. Bald darauf landete die Frau mit dem großen Schiff und kam vor ihren Vater mit ganz betruͤbtem Gesicht. Sprach er: „meine Tochter, warum kommst du allein, wo ist dein Mann?“ „Ach, antwortete sie, wie in großer Trauer, er ist ploͤtzlich auf dem Meer krank geworden und gestorben; dieser gute Schiffer hat mir beigestanden und weiß, wie alles zugegangen ist.“ Da oͤffnete der Koͤnig die Kammer und hieß die beiden herausgehen und als sie ihren Mann erblickte, war sie wie vom Donner beruͤhrt und sank auf die Knie und rief um Gnade. Der Koͤnig aber sprach: „da ist keine Gnade, er hat fuͤr dich sterben wollen und du hast ihn im Schlaf umgebracht, du sollst deinen verdienten Lohn haben. Da ward sie mit dem Schiffer in ein loͤcheriges Schiff gesetzt und ins Meer hinausgetrieben.</p> </div><lb/> <div n="1"> <head> <hi rendition="#b">17.<lb/> Die weiße Schlange.</hi> </head><lb/> <p>Es war ein maͤchtiger und weiser Koͤnig, der ließ sich jeden Mittag, wenn von der Tafel alles abgetragen und niemand mehr zugegen war, von einem seiner ersten Diener noch eine verdeckte Schuͤssel bringen, davon aß er ganz allein, deckte sie selbst wieder zu und kein Mensch wußte, was darunter lag. Nun trug sich zu, daß der Diener, als ihm der Koͤnig einmal die Schuͤssel fortzutragen </p> </div> </body> </text> </TEI> [92/0156]
und der alte sprach: „ich kanns nicht glauben, daß meine Tochter so schlecht soll gehandelt haben,“ und hieß sie beide in eine verborgene Kammer gehen, da sollten sie sich vor jedermann heimlich halten. Bald darauf landete die Frau mit dem großen Schiff und kam vor ihren Vater mit ganz betruͤbtem Gesicht. Sprach er: „meine Tochter, warum kommst du allein, wo ist dein Mann?“ „Ach, antwortete sie, wie in großer Trauer, er ist ploͤtzlich auf dem Meer krank geworden und gestorben; dieser gute Schiffer hat mir beigestanden und weiß, wie alles zugegangen ist.“ Da oͤffnete der Koͤnig die Kammer und hieß die beiden herausgehen und als sie ihren Mann erblickte, war sie wie vom Donner beruͤhrt und sank auf die Knie und rief um Gnade. Der Koͤnig aber sprach: „da ist keine Gnade, er hat fuͤr dich sterben wollen und du hast ihn im Schlaf umgebracht, du sollst deinen verdienten Lohn haben. Da ward sie mit dem Schiffer in ein loͤcheriges Schiff gesetzt und ins Meer hinausgetrieben.
17.
Die weiße Schlange.
Es war ein maͤchtiger und weiser Koͤnig, der ließ sich jeden Mittag, wenn von der Tafel alles abgetragen und niemand mehr zugegen war, von einem seiner ersten Diener noch eine verdeckte Schuͤssel bringen, davon aß er ganz allein, deckte sie selbst wieder zu und kein Mensch wußte, was darunter lag. Nun trug sich zu, daß der Diener, als ihm der Koͤnig einmal die Schuͤssel fortzutragen
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Zusätzlich zu dieser historischen Ausgabe gibt es in der 2004 von Prof. Hans-Jörg Uther herausgegebenen und im Olms-Verlag erschienenen Ausgabe (ISBN 978-3-487-12545-9) in Bd. 1, S. 7–27 ein aussagekräftiges Vorwort.
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