Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder- und Haus-Märchen. Bd. 1. Berlin, 1812.

Bild:
<< vorherige Seite
Zu dem Blaubart. No. 62.

Perraults la barbe bleue gehört zu seinem am
besten erzählten Märchen; ein schwedisches fliegen-
des Blatt. Blaskägget Fahlum 1810. ist bloß eine
Uebersetzung davon. Die französische Sage kennt
noch eine Schwester der Frau, Anne, als jene ster-
ben soll, gewährt ihr der Blaubart eine halbe
Viertelstunde, da schickt sie die Anne auf den Thurm
läßt sie nach den Brüdern sehen und ruft ihr von
Zeit zu Zeit in ihrer Angst zu: "Anne, ma soeur
Anne, ne vois tu rien venir?"
noch ganz volks-
mäßig erscheinen die Antworten derselben,

"Je ne vois que le soleil qui poudroie,
"et l'herbe, qui verdoie."

In der deutschen Erzählung, wenigstens wie wir
sie gehört haben, fehlt dies gänzlich; dagegen
kommt der Zug vor, daß die Geängstigte den Blut-
schlüssel in das Heu legt, weil es wirklich Volks-
glauben ist, das Heu ziehe Blut aus. -- Ein deut-
sches Volkslied (Wunderhorn I, 274. und Herder
Volkslieder I, 79) am schönsten neulich in Gräters
Idunna nach dem breslauischen Volksgesang mit-
getheilt, enthält im Grund dieselbe Sage, doch sehr
abweichend und ohne des blauen Barts Erwäh-
nung zu thun, von Ulrich und Aennchen. Eben so
der Fitchersvogel (No. 46.) auch wieder recht ei-
genthümlich und gut, und das holländische Mord-
Schloß (No. 73). Tieks Bearbeitung ist bekannt.
In Hamburg sagt man von einem Starkbärtigen,
er sei ein Blaubart (Schütze hollst. Idiot. I, 112.),
dasselbe gilt von dem ehemaligen Hessen; hier in
Cassel ist ein verwachsener, halb alberner und tol-
ler Handwerksbursch unter dem Namen bekannt
genug. -- Endlich haben ihre unverkennbare Aehn-
lichkeit mit der Sage: das schottische Lied von
Cospatrik, der König Porc bei Straparola und
der Eingang der 1001. Nacht, wo der Sultan
auch seine Weiber nach der ersten Nacht tödtet.

Zu den Goldkindern. No. 63.

Damit stimmt überein No. 74. Vom Johan-

Zu dem Blaubart. No. 62.

Perraults la barbe bleue gehoͤrt zu ſeinem am
beſten erzaͤhlten Maͤrchen; ein ſchwediſches fliegen-
des Blatt. Blaſkaͤgget Fahlum 1810. iſt bloß eine
Ueberſetzung davon. Die franzoͤſiſche Sage kennt
noch eine Schweſter der Frau, Anne, als jene ſter-
ben ſoll, gewaͤhrt ihr der Blaubart eine halbe
Viertelſtunde, da ſchickt ſie die Anne auf den Thurm
laͤßt ſie nach den Bruͤdern ſehen und ruft ihr von
Zeit zu Zeit in ihrer Angſt zu: „Anne, ma soeur
Anne, ne vois tu rien venir?“
noch ganz volks-
maͤßig erſcheinen die Antworten derſelben,

„Je ne vois que le soleil qui poudroie,
„et l'herbe, qui verdoie.“

In der deutſchen Erzaͤhlung, wenigſtens wie wir
ſie gehoͤrt haben, fehlt dies gaͤnzlich; dagegen
kommt der Zug vor, daß die Geaͤngſtigte den Blut-
ſchluͤſſel in das Heu legt, weil es wirklich Volks-
glauben iſt, das Heu ziehe Blut aus. — Ein deut-
ſches Volkslied (Wunderhorn I, 274. und Herder
Volkslieder I, 79) am ſchoͤnſten neulich in Graͤters
Idunna nach dem breslauiſchen Volksgeſang mit-
getheilt, enthaͤlt im Grund dieſelbe Sage, doch ſehr
abweichend und ohne des blauen Barts Erwaͤh-
nung zu thun, von Ulrich und Aennchen. Eben ſo
der Fitchersvogel (No. 46.) auch wieder recht ei-
genthuͤmlich und gut, und das hollaͤndiſche Mord-
Schloß (No. 73). Tieks Bearbeitung iſt bekannt.
In Hamburg ſagt man von einem Starkbaͤrtigen,
er ſei ein Blaubart (Schuͤtze hollſt. Idiot. I, 112.),
daſſelbe gilt von dem ehemaligen Heſſen; hier in
Caſſel iſt ein verwachſener, halb alberner und tol-
ler Handwerksburſch unter dem Namen bekannt
genug. — Endlich haben ihre unverkennbare Aehn-
lichkeit mit der Sage: das ſchottiſche Lied von
Coſpatrik, der Koͤnig Porc bei Straparola und
der Eingang der 1001. Nacht, wo der Sultan
auch ſeine Weiber nach der erſten Nacht toͤdtet.

Zu den Goldkindern. No. 63.

Damit ſtimmt uͤberein No. 74. Vom Johan-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0463" n="XLI"/>
        <div n="2">
          <head>Zu dem Blaubart. No. 62.</head><lb/>
          <p>Perraults <hi rendition="#aq">la barbe bleue</hi> geho&#x0364;rt zu &#x017F;einem am<lb/>
be&#x017F;ten erza&#x0364;hlten Ma&#x0364;rchen; ein &#x017F;chwedi&#x017F;ches fliegen-<lb/>
des Blatt. Bla&#x017F;ka&#x0364;gget Fahlum 1810. i&#x017F;t bloß eine<lb/>
Ueber&#x017F;etzung davon. Die franzo&#x0364;&#x017F;i&#x017F;che Sage kennt<lb/>
noch eine Schwe&#x017F;ter der Frau, Anne, als jene &#x017F;ter-<lb/>
ben &#x017F;oll, gewa&#x0364;hrt ihr der Blaubart eine halbe<lb/>
Viertel&#x017F;tunde, da &#x017F;chickt &#x017F;ie die Anne auf den Thurm<lb/>
la&#x0364;ßt &#x017F;ie nach den Bru&#x0364;dern &#x017F;ehen und ruft ihr von<lb/>
Zeit zu Zeit in ihrer Ang&#x017F;t zu: <hi rendition="#aq">&#x201E;Anne, ma soeur<lb/>
Anne, ne vois tu rien venir?&#x201C;</hi> noch ganz volks-<lb/>
ma&#x0364;ßig er&#x017F;cheinen die Antworten der&#x017F;elben,</p><lb/>
          <lg type="poem">
            <l> <hi rendition="#aq">&#x201E;Je ne vois que le soleil qui poudroie,</hi> </l><lb/>
            <l> <hi rendition="#aq">&#x201E;et l'herbe, qui verdoie.&#x201C;</hi> </l>
          </lg><lb/>
          <p>In der deut&#x017F;chen Erza&#x0364;hlung, wenig&#x017F;tens wie wir<lb/>
&#x017F;ie geho&#x0364;rt haben, fehlt dies ga&#x0364;nzlich; dagegen<lb/>
kommt der Zug vor, daß die Gea&#x0364;ng&#x017F;tigte den Blut-<lb/>
&#x017F;chlu&#x0364;&#x017F;&#x017F;el in das Heu legt, weil es wirklich Volks-<lb/>
glauben i&#x017F;t, das Heu ziehe Blut aus. &#x2014; Ein deut-<lb/>
&#x017F;ches Volkslied (Wunderhorn <hi rendition="#aq">I,</hi> 274. und Herder<lb/>
Volkslieder <hi rendition="#aq">I,</hi> 79) am &#x017F;cho&#x0364;n&#x017F;ten neulich in Gra&#x0364;ters<lb/>
Idunna nach dem breslaui&#x017F;chen Volksge&#x017F;ang mit-<lb/>
getheilt, entha&#x0364;lt im Grund die&#x017F;elbe Sage, doch &#x017F;ehr<lb/>
abweichend und ohne des blauen Barts Erwa&#x0364;h-<lb/>
nung zu thun, von Ulrich und Aennchen. Eben &#x017F;o<lb/>
der <choice><sic>Fit&#x017F;chersvogel</sic><corr type="corrigenda">Fitchersvogel</corr></choice> (No. 46.) auch wieder recht ei-<lb/>
genthu&#x0364;mlich und gut, und das holla&#x0364;ndi&#x017F;che Mord-<lb/>
Schloß (No. 73). Tieks Bearbeitung i&#x017F;t bekannt.<lb/>
In Hamburg &#x017F;agt man von einem Starkba&#x0364;rtigen,<lb/>
er &#x017F;ei ein Blaubart (Schu&#x0364;tze holl&#x017F;t. Idiot. <hi rendition="#aq">I,</hi> 112.),<lb/>
da&#x017F;&#x017F;elbe gilt von dem ehemaligen He&#x017F;&#x017F;en; hier in<lb/>
Ca&#x017F;&#x017F;el i&#x017F;t ein verwach&#x017F;ener, halb alberner und tol-<lb/>
ler Handwerksbur&#x017F;ch unter <hi rendition="#g">dem</hi> Namen bekannt<lb/>
genug. &#x2014; Endlich haben ihre unverkennbare Aehn-<lb/>
lichkeit mit der Sage: das &#x017F;chotti&#x017F;che Lied von<lb/>
Co&#x017F;patrik, der Ko&#x0364;nig Porc bei Straparola und<lb/>
der Eingang der 1001. Nacht, wo der Sultan<lb/>
auch &#x017F;eine Weiber nach der er&#x017F;ten Nacht to&#x0364;dtet.</p>
        </div><lb/>
        <div n="2">
          <head>Zu den Goldkindern. No. 63.</head><lb/>
          <p>Damit &#x017F;timmt u&#x0364;berein No. 74. Vom Johan-<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[XLI/0463] Zu dem Blaubart. No. 62. Perraults la barbe bleue gehoͤrt zu ſeinem am beſten erzaͤhlten Maͤrchen; ein ſchwediſches fliegen- des Blatt. Blaſkaͤgget Fahlum 1810. iſt bloß eine Ueberſetzung davon. Die franzoͤſiſche Sage kennt noch eine Schweſter der Frau, Anne, als jene ſter- ben ſoll, gewaͤhrt ihr der Blaubart eine halbe Viertelſtunde, da ſchickt ſie die Anne auf den Thurm laͤßt ſie nach den Bruͤdern ſehen und ruft ihr von Zeit zu Zeit in ihrer Angſt zu: „Anne, ma soeur Anne, ne vois tu rien venir?“ noch ganz volks- maͤßig erſcheinen die Antworten derſelben, „Je ne vois que le soleil qui poudroie, „et l'herbe, qui verdoie.“ In der deutſchen Erzaͤhlung, wenigſtens wie wir ſie gehoͤrt haben, fehlt dies gaͤnzlich; dagegen kommt der Zug vor, daß die Geaͤngſtigte den Blut- ſchluͤſſel in das Heu legt, weil es wirklich Volks- glauben iſt, das Heu ziehe Blut aus. — Ein deut- ſches Volkslied (Wunderhorn I, 274. und Herder Volkslieder I, 79) am ſchoͤnſten neulich in Graͤters Idunna nach dem breslauiſchen Volksgeſang mit- getheilt, enthaͤlt im Grund dieſelbe Sage, doch ſehr abweichend und ohne des blauen Barts Erwaͤh- nung zu thun, von Ulrich und Aennchen. Eben ſo der Fitchersvogel (No. 46.) auch wieder recht ei- genthuͤmlich und gut, und das hollaͤndiſche Mord- Schloß (No. 73). Tieks Bearbeitung iſt bekannt. In Hamburg ſagt man von einem Starkbaͤrtigen, er ſei ein Blaubart (Schuͤtze hollſt. Idiot. I, 112.), daſſelbe gilt von dem ehemaligen Heſſen; hier in Caſſel iſt ein verwachſener, halb alberner und tol- ler Handwerksburſch unter dem Namen bekannt genug. — Endlich haben ihre unverkennbare Aehn- lichkeit mit der Sage: das ſchottiſche Lied von Coſpatrik, der Koͤnig Porc bei Straparola und der Eingang der 1001. Nacht, wo der Sultan auch ſeine Weiber nach der erſten Nacht toͤdtet. Zu den Goldkindern. No. 63. Damit ſtimmt uͤberein No. 74. Vom Johan-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen01_1812
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen01_1812/463
Zitationshilfe: Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder- und Haus-Märchen. Bd. 1. Berlin, 1812, S. XLI. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen01_1812/463>, abgerufen am 18.12.2024.