Ein König jagte in einem großen Wald, verirrte sich und konnte keinen Ausgang finden, da kam er endlich zu einer Hexe, die bat er, sie mögte ihn wieder heraus leiten. Die Hexe aber antwortete, das geschähe nimmermehr, er müsse darin bleiben und sein Leben verlieren, und nur das eine könne ihn erretten, daß er ihre Tochter heirathe. Dem König war sein Leben lieb, und in der Angst sagte er ja; die Hexe brachte ihm das Mädchen, es war jung und schön, er konnte es aber nicht ohne Grau- sen und ohne eine heimliche Furcht ansehen; doch wollte er, was er versprochen hatte, hal- ten. Die Alte führte dann beide auf den rech- ten Weg, und daheim ward die Hexentochter seine Gemahlin. Der König aber hatte noch sieben Kinder von seiner ersten Frau, sechs Buben und ein Mädchen, und weil er fürch- tete, es könne ihnen von der Stiefmutter ein Leids angethan werden, brachte er sie in ein Schloß, das er mitten in einem Walde stehen hatte. Es stand so verborgen, daß niemand den Weg dahin wußte, und er selber hätte ihn nicht gefunden, wenn ihm nicht eine weise Frau einen Knauel von Garn gegeben, wenn er den
49. Die ſechs Schwaͤne.
Ein Koͤnig jagte in einem großen Wald, verirrte ſich und konnte keinen Ausgang finden, da kam er endlich zu einer Hexe, die bat er, ſie moͤgte ihn wieder heraus leiten. Die Hexe aber antwortete, das geſchaͤhe nimmermehr, er muͤſſe darin bleiben und ſein Leben verlieren, und nur das eine koͤnne ihn erretten, daß er ihre Tochter heirathe. Dem Koͤnig war ſein Leben lieb, und in der Angſt ſagte er ja; die Hexe brachte ihm das Maͤdchen, es war jung und ſchoͤn, er konnte es aber nicht ohne Grau- ſen und ohne eine heimliche Furcht anſehen; doch wollte er, was er verſprochen hatte, hal- ten. Die Alte fuͤhrte dann beide auf den rech- ten Weg, und daheim ward die Hexentochter ſeine Gemahlin. Der Koͤnig aber hatte noch ſieben Kinder von ſeiner erſten Frau, ſechs Buben und ein Maͤdchen, und weil er fuͤrch- tete, es koͤnne ihnen von der Stiefmutter ein Leids angethan werden, brachte er ſie in ein Schloß, das er mitten in einem Walde ſtehen hatte. Es ſtand ſo verborgen, daß niemand den Weg dahin wußte, und er ſelber haͤtte ihn nicht gefunden, wenn ihm nicht eine weiſe Frau einen Knauel von Garn gegeben, wenn er den
<TEI><text><body><pbfacs="#f0254"n="220"/><divn="1"><head>49.<lb/><hirendition="#g">Die ſechs Schwaͤne</hi>.</head><lb/><p>Ein Koͤnig jagte in einem großen Wald,<lb/>
verirrte ſich und konnte keinen Ausgang finden,<lb/>
da kam er endlich zu einer Hexe, die bat er,<lb/>ſie moͤgte ihn wieder heraus leiten. Die Hexe<lb/>
aber antwortete, das geſchaͤhe nimmermehr, er<lb/>
muͤſſe darin bleiben und ſein Leben verlieren,<lb/>
und nur das eine koͤnne ihn erretten, daß er<lb/>
ihre Tochter heirathe. Dem Koͤnig war ſein<lb/>
Leben lieb, und in der Angſt ſagte er ja; die<lb/>
Hexe brachte ihm das Maͤdchen, es war jung<lb/>
und ſchoͤn, er konnte es aber nicht ohne Grau-<lb/>ſen und ohne eine heimliche Furcht anſehen;<lb/>
doch wollte er, was er verſprochen hatte, hal-<lb/>
ten. Die Alte fuͤhrte dann beide auf den rech-<lb/>
ten Weg, und daheim ward die Hexentochter<lb/>ſeine Gemahlin. Der Koͤnig aber hatte noch<lb/>ſieben Kinder von ſeiner erſten Frau, ſechs<lb/>
Buben und ein Maͤdchen, und weil er fuͤrch-<lb/>
tete, es koͤnne ihnen von der Stiefmutter ein<lb/>
Leids angethan werden, brachte er ſie in ein<lb/>
Schloß, das er mitten in einem Walde ſtehen<lb/>
hatte. Es ſtand ſo verborgen, daß niemand den<lb/>
Weg dahin wußte, und er ſelber haͤtte ihn<lb/>
nicht gefunden, wenn ihm nicht eine weiſe Frau<lb/>
einen Knauel von Garn gegeben, wenn er den<lb/></p></div></body></text></TEI>
[220/0254]
49.
Die ſechs Schwaͤne.
Ein Koͤnig jagte in einem großen Wald,
verirrte ſich und konnte keinen Ausgang finden,
da kam er endlich zu einer Hexe, die bat er,
ſie moͤgte ihn wieder heraus leiten. Die Hexe
aber antwortete, das geſchaͤhe nimmermehr, er
muͤſſe darin bleiben und ſein Leben verlieren,
und nur das eine koͤnne ihn erretten, daß er
ihre Tochter heirathe. Dem Koͤnig war ſein
Leben lieb, und in der Angſt ſagte er ja; die
Hexe brachte ihm das Maͤdchen, es war jung
und ſchoͤn, er konnte es aber nicht ohne Grau-
ſen und ohne eine heimliche Furcht anſehen;
doch wollte er, was er verſprochen hatte, hal-
ten. Die Alte fuͤhrte dann beide auf den rech-
ten Weg, und daheim ward die Hexentochter
ſeine Gemahlin. Der Koͤnig aber hatte noch
ſieben Kinder von ſeiner erſten Frau, ſechs
Buben und ein Maͤdchen, und weil er fuͤrch-
tete, es koͤnne ihnen von der Stiefmutter ein
Leids angethan werden, brachte er ſie in ein
Schloß, das er mitten in einem Walde ſtehen
hatte. Es ſtand ſo verborgen, daß niemand den
Weg dahin wußte, und er ſelber haͤtte ihn
nicht gefunden, wenn ihm nicht eine weiſe Frau
einen Knauel von Garn gegeben, wenn er den
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder- und Haus-Märchen. Bd. 1. Berlin, 1812, S. 220. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen01_1812/254>, abgerufen am 18.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.