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Grimm, Herman: Das Kind. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 6. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 275–356. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

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noch am Vormittage, aber wäre er mitten in der Nacht gekommen, seine Eile schien ihm ein Recht gegeben zu haben, ungesäumt anzuklopfen, als hätte er die wichtigsten Nachrichten zu überbringen. Er fragte sogleich nach dem gnädigen Fräulein und wartete, denn man meldete ihn auf diese Frage ohne Weiteres an; er ward angenommen und die Thüre des Salons vor ihm geöffnet.

Als er eintrat, fand er Therese, welche den Kopf in die Hand gestützt an einem Fenster saß. Sie erhob sich, er ging auf sie zu und verneigte sich. Es war der Tag nach der Abfahrt der Reisenden. Emil hatte fest erwartet, daß man ihn zu Emma führen würde; deßhalb blieb er plötzlich wie erschrocken vor Theresen stehen, und als ihn diese anredete, stotterte er: Ich hatte gehofft Ihre Schwester zu finden.

Das thut mir leid, antwortete sie, matt lächelnd. Sie sind gestern Morgen abgereis't.

O, sie ist abgereis't! murmelte er nach und trat an das Fenster, von dem Therese einige Schritte zurückgetreten war. Es gingen unten die Leute so eilig vorüber; drüben sah ein alter Herr heraus und sein Hund neben ihm, und unten saßen ein paar Kinder neben einander auf der Schwelle der Hausthür und fingen Steinchen. Er sah das eine Weile mechanisch an, ja es machte ihn lächeln, als zu den Kindern ein anderes kam, das ein Stück buntes Glas hatte, durch

noch am Vormittage, aber wäre er mitten in der Nacht gekommen, seine Eile schien ihm ein Recht gegeben zu haben, ungesäumt anzuklopfen, als hätte er die wichtigsten Nachrichten zu überbringen. Er fragte sogleich nach dem gnädigen Fräulein und wartete, denn man meldete ihn auf diese Frage ohne Weiteres an; er ward angenommen und die Thüre des Salons vor ihm geöffnet.

Als er eintrat, fand er Therese, welche den Kopf in die Hand gestützt an einem Fenster saß. Sie erhob sich, er ging auf sie zu und verneigte sich. Es war der Tag nach der Abfahrt der Reisenden. Emil hatte fest erwartet, daß man ihn zu Emma führen würde; deßhalb blieb er plötzlich wie erschrocken vor Theresen stehen, und als ihn diese anredete, stotterte er: Ich hatte gehofft Ihre Schwester zu finden.

Das thut mir leid, antwortete sie, matt lächelnd. Sie sind gestern Morgen abgereis't.

O, sie ist abgereis't! murmelte er nach und trat an das Fenster, von dem Therese einige Schritte zurückgetreten war. Es gingen unten die Leute so eilig vorüber; drüben sah ein alter Herr heraus und sein Hund neben ihm, und unten saßen ein paar Kinder neben einander auf der Schwelle der Hausthür und fingen Steinchen. Er sah das eine Weile mechanisch an, ja es machte ihn lächeln, als zu den Kindern ein anderes kam, das ein Stück buntes Glas hatte, durch

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[0045] noch am Vormittage, aber wäre er mitten in der Nacht gekommen, seine Eile schien ihm ein Recht gegeben zu haben, ungesäumt anzuklopfen, als hätte er die wichtigsten Nachrichten zu überbringen. Er fragte sogleich nach dem gnädigen Fräulein und wartete, denn man meldete ihn auf diese Frage ohne Weiteres an; er ward angenommen und die Thüre des Salons vor ihm geöffnet. Als er eintrat, fand er Therese, welche den Kopf in die Hand gestützt an einem Fenster saß. Sie erhob sich, er ging auf sie zu und verneigte sich. Es war der Tag nach der Abfahrt der Reisenden. Emil hatte fest erwartet, daß man ihn zu Emma führen würde; deßhalb blieb er plötzlich wie erschrocken vor Theresen stehen, und als ihn diese anredete, stotterte er: Ich hatte gehofft Ihre Schwester zu finden. Das thut mir leid, antwortete sie, matt lächelnd. Sie sind gestern Morgen abgereis't. O, sie ist abgereis't! murmelte er nach und trat an das Fenster, von dem Therese einige Schritte zurückgetreten war. Es gingen unten die Leute so eilig vorüber; drüben sah ein alter Herr heraus und sein Hund neben ihm, und unten saßen ein paar Kinder neben einander auf der Schwelle der Hausthür und fingen Steinchen. Er sah das eine Weile mechanisch an, ja es machte ihn lächeln, als zu den Kindern ein anderes kam, das ein Stück buntes Glas hatte, durch

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Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-15T10:24:04Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-03-15T10:24:04Z)

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Bogensignaturen: nicht gekennzeichnet; Druckfehler: dokumentiert; fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: keine Angabe; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet; i/j in Fraktur: keine Angabe; I/J in Fraktur: Lautwert transkribiert; Kolumnentitel: nicht gekennzeichnet; Kustoden: keine Angabe; langes s (ſ): als s transkribiert; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): keine Angabe; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: aufgelöst; u/v bzw. U/V: keine Angabe; Vokale mit übergest. e: keine Angabe; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: nein;




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Zitationshilfe: Grimm, Herman: Das Kind. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 6. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 275–356. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_kind_1910/45>, abgerufen am 26.04.2024.