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Grimm, Jacob: Deutsche Grammatik. Bd. 1. Göttingen, 1822.

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Vorrede.

Die abhandlung der laut- vor der formenlehre hat
diese sichtlich gefördert; in der natürlichen ordnung
würde es gleichfalls gelegen haben, das dritte buch,
worin ich die wortbildung erörtere, dem zweiten vor-
auszuschicken. Da aber durch diese vorschiebung das
werk seiner ersten ausgabe vollends unähnlich geworden
wäre und für den beginn des sprachstudiums die kennt-
nis der declinationen jetzt noch das wichtigste scheint,
verspare ich lieber die lehre von den wortbildungen.
In dem ersten buche, dessen druck fast vor zwei jahren
angefangen wurde, möchte ich freilich wieder verschie-
dene stücke abändern und nach reiferer überlegung be-
richtigen, vor allem (schon nach der uralten alphabeti-
schen reihe b, g, d; b, c, d) die kehl- den zungenlauten
vorordnen; damahls beachtete ich die folge der deutschen
mediae: b, d, g. Die in der formenlehre durchgeführte,
factisch nur theilweise vorhandene streng althochdeutsche
lautreihe konnte im ersten buche, wo sie die unter-
suchung der buchstaben gestört hätte, nicht beobachtet
werden; tritt sie selbst im zweiten zu hart vor, so feh-
len uns gerade die mittel einer anschaulichen, lebendi-
gen kenntnis dieser mundart, wodurch jene theorie etwa
gemäßigt worden wäre. Unentbehrlich schien mir scharf-
positive abgrenzung für den satz der lautverschiebung
(s. 584), dessen einfluß auf das etymologische studium
vielleicht lat. und griech. philologen zur prüfung reitzt.
So wie diesen die gesetze classischer metrik eine fülle
grammatischer regeln offenbart haben, ist in den deut-
schen denkmählern die beachtung der alliterationen
und reime von außerordentlichem gewicht. Ohne den
reim wäre fast keine geschichte unserer sprache auszu-
führen. Das band der poesie soll nicht allein die hörer
und sänger des lieds erfreuen, es soll auch die kraft
der sprache zügeln, ihre reinheit sichern und kunde da-
von auf kommende geschlechter bringen. Ungebundene
prosa läßt dem gedächtnis den inhalt verhallen, den or-
ganen die wahre belautung der worte zweifelhaft wer-
den. Der reim hat nur schlechte dichter gezwängt,
wahren gedient, ihre gewalt der sprache und des gedan-
kens zu enthüllen. Es gibt aber zeiten, wo die kunst
des reimes ausstirbt, weil sich die sinnliche zartheit der
wurzelärmeren sprache verhärtet und neugebildete zusam-
mensetzungen eine von natur steifere bewegung haben;
so sind früher die metra nach dem gesetz der quantität
(welches ich unserer sprache aus gebliebenen nachwir-

Vorrede.

Die abhandlung der laut- vor der formenlehre hat
dieſe ſichtlich gefördert; in der natürlichen ordnung
würde es gleichfalls gelegen haben, das dritte buch,
worin ich die wortbildung erörtere, dem zweiten vor-
auszuſchicken. Da aber durch dieſe vorſchiebung das
werk ſeiner erſten ausgabe vollends unähnlich geworden
wäre und für den beginn des ſprachſtudiums die kennt-
nis der declinationen jetzt noch das wichtigſte ſcheint,
verſpare ich lieber die lehre von den wortbildungen.
In dem erſten buche, deſſen druck faſt vor zwei jahren
angefangen wurde, möchte ich freilich wieder verſchie-
dene ſtücke abändern und nach reiferer überlegung be-
richtigen, vor allem (ſchon nach der uralten alphabeti-
ſchen reihe β, γ, δ; b, c, d) die kehl- den zungenlauten
vorordnen; damahls beachtete ich die folge der deutſchen
mediae: b, d, g. Die in der formenlehre durchgeführte,
factiſch nur theilweiſe vorhandene ſtreng althochdeutſche
lautreihe konnte im erſten buche, wo ſie die unter-
ſuchung der buchſtaben geſtört hätte, nicht beobachtet
werden; tritt ſie ſelbſt im zweiten zu hart vor, ſo feh-
len uns gerade die mittel einer anſchaulichen, lebendi-
gen kenntnis dieſer mundart, wodurch jene theorie etwa
gemäßigt worden wäre. Unentbehrlich ſchien mir ſcharf-
poſitive abgrenzung für den ſatz der lautverſchiebung
(ſ. 584), deſſen einfluß auf das etymologiſche ſtudium
vielleicht lat. und griech. philologen zur prüfung reitzt.
So wie dieſen die geſetze claſſiſcher metrik eine fülle
grammatiſcher regeln offenbart haben, iſt in den deut-
ſchen denkmählern die beachtung der alliterationen
und reime von außerordentlichem gewicht. Ohne den
reim wäre faſt keine geſchichte unſerer ſprache auszu-
führen. Das band der poeſie ſoll nicht allein die hörer
und ſänger des lieds erfreuen, es ſoll auch die kraft
der ſprache zügeln, ihre reinheit ſichern und kunde da-
von auf kommende geſchlechter bringen. Ungebundene
proſa läßt dem gedächtnis den inhalt verhallen, den or-
ganen die wahre belautung der worte zweifelhaft wer-
den. Der reim hat nur ſchlechte dichter gezwängt,
wahren gedient, ihre gewalt der ſprache und des gedan-
kens zu enthüllen. Es gibt aber zeiten, wo die kunſt
des reimes ausſtirbt, weil ſich die ſinnliche zartheit der
wurzelärmeren ſprache verhärtet und neugebildete zuſam-
menſetzungen eine von natur ſteifere bewegung haben;
ſo ſind früher die metra nach dem geſetz der quantität
(welches ich unſerer ſprache aus gebliebenen nachwir-

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[VII/0013] Vorrede. Die abhandlung der laut- vor der formenlehre hat dieſe ſichtlich gefördert; in der natürlichen ordnung würde es gleichfalls gelegen haben, das dritte buch, worin ich die wortbildung erörtere, dem zweiten vor- auszuſchicken. Da aber durch dieſe vorſchiebung das werk ſeiner erſten ausgabe vollends unähnlich geworden wäre und für den beginn des ſprachſtudiums die kennt- nis der declinationen jetzt noch das wichtigſte ſcheint, verſpare ich lieber die lehre von den wortbildungen. In dem erſten buche, deſſen druck faſt vor zwei jahren angefangen wurde, möchte ich freilich wieder verſchie- dene ſtücke abändern und nach reiferer überlegung be- richtigen, vor allem (ſchon nach der uralten alphabeti- ſchen reihe β, γ, δ; b, c, d) die kehl- den zungenlauten vorordnen; damahls beachtete ich die folge der deutſchen mediae: b, d, g. Die in der formenlehre durchgeführte, factiſch nur theilweiſe vorhandene ſtreng althochdeutſche lautreihe konnte im erſten buche, wo ſie die unter- ſuchung der buchſtaben geſtört hätte, nicht beobachtet werden; tritt ſie ſelbſt im zweiten zu hart vor, ſo feh- len uns gerade die mittel einer anſchaulichen, lebendi- gen kenntnis dieſer mundart, wodurch jene theorie etwa gemäßigt worden wäre. Unentbehrlich ſchien mir ſcharf- poſitive abgrenzung für den ſatz der lautverſchiebung (ſ. 584), deſſen einfluß auf das etymologiſche ſtudium vielleicht lat. und griech. philologen zur prüfung reitzt. So wie dieſen die geſetze claſſiſcher metrik eine fülle grammatiſcher regeln offenbart haben, iſt in den deut- ſchen denkmählern die beachtung der alliterationen und reime von außerordentlichem gewicht. Ohne den reim wäre faſt keine geſchichte unſerer ſprache auszu- führen. Das band der poeſie ſoll nicht allein die hörer und ſänger des lieds erfreuen, es ſoll auch die kraft der ſprache zügeln, ihre reinheit ſichern und kunde da- von auf kommende geſchlechter bringen. Ungebundene proſa läßt dem gedächtnis den inhalt verhallen, den or- ganen die wahre belautung der worte zweifelhaft wer- den. Der reim hat nur ſchlechte dichter gezwängt, wahren gedient, ihre gewalt der ſprache und des gedan- kens zu enthüllen. Es gibt aber zeiten, wo die kunſt des reimes ausſtirbt, weil ſich die ſinnliche zartheit der wurzelärmeren ſprache verhärtet und neugebildete zuſam- menſetzungen eine von natur ſteifere bewegung haben; ſo ſind früher die metra nach dem geſetz der quantität (welches ich unſerer ſprache aus gebliebenen nachwir-

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Zitationshilfe: Grimm, Jacob: Deutsche Grammatik. Bd. 1. Göttingen, 1822, S. VII. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_grammatik01_1822/13>, abgerufen am 26.04.2024.