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Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845.

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Das Gemüth.

Gefühle können das ruhige Vorstellen begleiten; es kann z. B. das wissen-
schaftliche Denken, wenn die adäquaten Vorstellungen sich förderlich treffen, von
grosser Lust, von dem Gefühle des Gelingens begleitet sein. Aber die Gefühle
sind viel lebhafter, wenn durch eine plötzlich eintretende Veränderung im Be-
wusstsein die dem Ich angehörigen Vorstellungsmassen in heftigere Schwankung
gerathen und das Ich dadurch eine unruhige, rasche Förderung oder Hemmung
erleidet. Dieses Afficirtwerden des Ich nennt man die Affecte; sie sind im ersten
Falle freudiger, im zweiten trauriger Art. In allen Affecten finden sich Gefühle
als wesentliche Bestandtheile, aber nicht alle Gefühle setzen uns in Affect; es gibt
vielmehr dauernde, stabile Gefühle ohne allen Affect (Selbstgefühl, Vaterlands-,
Familiengefühl). *)

Das Gemüth, dem diese Vorgänge als seine, als Gemüthsbewe-
gungen, zugeschrieben werden, hat nun eine ganz wesentliche Be-
ziehung zur motorischen Seite des Seelenlebens, zu den Trieben
und dem Wollen. Nicht nur werden durch alle affectartigen Zu-
stände Triebe und Willensimpulse geweckt, um entweder der Hem-
mung entgegenzutreten oder der Förderung zu folgen; sondern die
Beobachtung zeigt auch, dass schon die Entstehung der Affecte weit
leichter von der motorischen Seite des Seelenlebens, als vom blossen
reinen Vorstellen aus geschieht.

Gehemmtes oder gefördertes Streben afficirt das Ich noch viel mehr, als dieselben
Zustände im reinen Vorstellen und die plötzlichsten und tiefsten Erschütterungen
resultiren aus dem plötzlichen Zurückgeworfenwerden der eben flüssigen Strebungen.
Wenn z. B. unser ruhiges, wissenschaftliches Denken durch eine unerwartete
äussere Unterbrechung gehemmt wird, so mögen wir wohl ärgerlich werden;
wenn aber unserm Wollen entgegengetreten wird, unsre, der Ausführung nahen
Plane vernichtet werden, so erregt diess viel heftigere Gemüthsbewegungen,
Zorn, Traurigkeit und dergl. Sehr häufig sieht man, dass contrariirte Plane und
Willensbestimmungen, z. B. eine aufgedrungene Beschäftigung, während das Indi-
viduum mit allen seinen geistigen Kräften nach ganz anderen Seiten strebt, die
Ursache andauernder Gemüthsbewegungen und eines daraus entwickelten Irreseins
werden. -- Ein uns bekannter geisteskranker Mann ward es dadurch, dass er
Metzger werden musste, während er Pfarrer werden wollte. Solche Beispiele
finden sich in allen Irrenanstalten.

§. 28.

Die Frage, was das Gemüth und die Gemüthsbewegungen eigent-
lich seien und welche Stellung sie im psychischen Leben einneh-
men, ist für das Verständniss des Irreseins, das ja (§. 26.) so oft
und so lange hauptsächlich in einem Gemüthsleiden besteht, wichtig
genug. -- Unser Vorstellen und Streben bewegt sich in stetem
Wechsel immer fort; von einer Gemüthsbewegung aber ist nur da die
Rede, wo die Vorstellungsmasse, die das Ich repräsentirt, stärker

*) S. Herbart, Lehrbuch. 1816. p. 54. Drobisch, empir. Psychologie. 1842. p. 205.
Das Gemüth.

Gefühle können das ruhige Vorstellen begleiten; es kann z. B. das wissen-
schaftliche Denken, wenn die adäquaten Vorstellungen sich förderlich treffen, von
grosser Lust, von dem Gefühle des Gelingens begleitet sein. Aber die Gefühle
sind viel lebhafter, wenn durch eine plötzlich eintretende Veränderung im Be-
wusstsein die dem Ich angehörigen Vorstellungsmassen in heftigere Schwankung
gerathen und das Ich dadurch eine unruhige, rasche Förderung oder Hemmung
erleidet. Dieses Afficirtwerden des Ich nennt man die Affecte; sie sind im ersten
Falle freudiger, im zweiten trauriger Art. In allen Affecten finden sich Gefühle
als wesentliche Bestandtheile, aber nicht alle Gefühle setzen uns in Affect; es gibt
vielmehr dauernde, stabile Gefühle ohne allen Affect (Selbstgefühl, Vaterlands-,
Familiengefühl). *)

Das Gemüth, dem diese Vorgänge als seine, als Gemüthsbewe-
gungen, zugeschrieben werden, hat nun eine ganz wesentliche Be-
ziehung zur motorischen Seite des Seelenlebens, zu den Trieben
und dem Wollen. Nicht nur werden durch alle affectartigen Zu-
stände Triebe und Willensimpulse geweckt, um entweder der Hem-
mung entgegenzutreten oder der Förderung zu folgen; sondern die
Beobachtung zeigt auch, dass schon die Entstehung der Affecte weit
leichter von der motorischen Seite des Seelenlebens, als vom blossen
reinen Vorstellen aus geschieht.

Gehemmtes oder gefördertes Streben afficirt das Ich noch viel mehr, als dieselben
Zustände im reinen Vorstellen und die plötzlichsten und tiefsten Erschütterungen
resultiren aus dem plötzlichen Zurückgeworfenwerden der eben flüssigen Strebungen.
Wenn z. B. unser ruhiges, wissenschaftliches Denken durch eine unerwartete
äussere Unterbrechung gehemmt wird, so mögen wir wohl ärgerlich werden;
wenn aber unserm Wollen entgegengetreten wird, unsre, der Ausführung nahen
Plane vernichtet werden, so erregt diess viel heftigere Gemüthsbewegungen,
Zorn, Traurigkeit und dergl. Sehr häufig sieht man, dass contrariirte Plane und
Willensbestimmungen, z. B. eine aufgedrungene Beschäftigung, während das Indi-
viduum mit allen seinen geistigen Kräften nach ganz anderen Seiten strebt, die
Ursache andauernder Gemüthsbewegungen und eines daraus entwickelten Irreseins
werden. — Ein uns bekannter geisteskranker Mann ward es dadurch, dass er
Metzger werden musste, während er Pfarrer werden wollte. Solche Beispiele
finden sich in allen Irrenanstalten.

§. 28.

Die Frage, was das Gemüth und die Gemüthsbewegungen eigent-
lich seien und welche Stellung sie im psychischen Leben einneh-
men, ist für das Verständniss des Irreseins, das ja (§. 26.) so oft
und so lange hauptsächlich in einem Gemüthsleiden besteht, wichtig
genug. — Unser Vorstellen und Streben bewegt sich in stetem
Wechsel immer fort; von einer Gemüthsbewegung aber ist nur da die
Rede, wo die Vorstellungsmasse, die das Ich repräsentirt, stärker

*) S. Herbart, Lehrbuch. 1816. p. 54. Drobisch, empir. Psychologie. 1842. p. 205.
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[42/0056] Das Gemüth. Gefühle können das ruhige Vorstellen begleiten; es kann z. B. das wissen- schaftliche Denken, wenn die adäquaten Vorstellungen sich förderlich treffen, von grosser Lust, von dem Gefühle des Gelingens begleitet sein. Aber die Gefühle sind viel lebhafter, wenn durch eine plötzlich eintretende Veränderung im Be- wusstsein die dem Ich angehörigen Vorstellungsmassen in heftigere Schwankung gerathen und das Ich dadurch eine unruhige, rasche Förderung oder Hemmung erleidet. Dieses Afficirtwerden des Ich nennt man die Affecte; sie sind im ersten Falle freudiger, im zweiten trauriger Art. In allen Affecten finden sich Gefühle als wesentliche Bestandtheile, aber nicht alle Gefühle setzen uns in Affect; es gibt vielmehr dauernde, stabile Gefühle ohne allen Affect (Selbstgefühl, Vaterlands-, Familiengefühl). *) Das Gemüth, dem diese Vorgänge als seine, als Gemüthsbewe- gungen, zugeschrieben werden, hat nun eine ganz wesentliche Be- ziehung zur motorischen Seite des Seelenlebens, zu den Trieben und dem Wollen. Nicht nur werden durch alle affectartigen Zu- stände Triebe und Willensimpulse geweckt, um entweder der Hem- mung entgegenzutreten oder der Förderung zu folgen; sondern die Beobachtung zeigt auch, dass schon die Entstehung der Affecte weit leichter von der motorischen Seite des Seelenlebens, als vom blossen reinen Vorstellen aus geschieht. Gehemmtes oder gefördertes Streben afficirt das Ich noch viel mehr, als dieselben Zustände im reinen Vorstellen und die plötzlichsten und tiefsten Erschütterungen resultiren aus dem plötzlichen Zurückgeworfenwerden der eben flüssigen Strebungen. Wenn z. B. unser ruhiges, wissenschaftliches Denken durch eine unerwartete äussere Unterbrechung gehemmt wird, so mögen wir wohl ärgerlich werden; wenn aber unserm Wollen entgegengetreten wird, unsre, der Ausführung nahen Plane vernichtet werden, so erregt diess viel heftigere Gemüthsbewegungen, Zorn, Traurigkeit und dergl. Sehr häufig sieht man, dass contrariirte Plane und Willensbestimmungen, z. B. eine aufgedrungene Beschäftigung, während das Indi- viduum mit allen seinen geistigen Kräften nach ganz anderen Seiten strebt, die Ursache andauernder Gemüthsbewegungen und eines daraus entwickelten Irreseins werden. — Ein uns bekannter geisteskranker Mann ward es dadurch, dass er Metzger werden musste, während er Pfarrer werden wollte. Solche Beispiele finden sich in allen Irrenanstalten. §. 28. Die Frage, was das Gemüth und die Gemüthsbewegungen eigent- lich seien und welche Stellung sie im psychischen Leben einneh- men, ist für das Verständniss des Irreseins, das ja (§. 26.) so oft und so lange hauptsächlich in einem Gemüthsleiden besteht, wichtig genug. — Unser Vorstellen und Streben bewegt sich in stetem Wechsel immer fort; von einer Gemüthsbewegung aber ist nur da die Rede, wo die Vorstellungsmasse, die das Ich repräsentirt, stärker *) S. Herbart, Lehrbuch. 1816. p. 54. Drobisch, empir. Psychologie. 1842. p. 205.

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Zitationshilfe: Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845, S. 42. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845/56>, abgerufen am 21.11.2024.