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Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845.

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Verlauf des Wahnsinns.
zurücktritt und sich nur einzelne wenige, aber bleibende fixiren, je
mehr in der früheren Individualität des Kranken schon Eigenthüm-
lichkeiten lagen, welche eine baldige Durchdringung und Verfälschung
des Ich von ihnen begünstigen, um so weniger ist eine Rückkehr
aus dieser Traumwelt zu erwarten.

Im Verlaufe dieser Zustände treten mehr scheinbare, als wahre
Remissionen ein, sie bestehen mehr in äusserer Beruhigung, als in
innerem Nachlass, in einer stilleren Beschäftigung mit dem Delirium;
völlige Intermissionen kommen nur da vor, wo der Zustand noch
zwischen Tobsucht nnd Wahnsinn schwankt.

Der Kranke kann genesen; dann fällt es ihm oft wie Schuppen
von den Augen, er erwacht wie aus einem Traum und kann dann
nicht begreifen, warum ein einfaches Raisonnement in Bezug auf
seinen Wahn, das ihm jetzt ganz klar ist, während der Krankheit
durchaus keinen Eindruck auf ihn machen konnte. Jetzt ist er em-
pfänglich für Gründe, und es ist hier wirklich oft nöthig, dem Ver-
ständniss des Reconvalescenten durch Erklärungen und demonstratio
ad oculos nachzuhelfen, um die Wahnvorstellungen, die noch hier
und da auftauchen, aber von dem Kranken schon als Irrthümer er-
kannt werden, ganz zu entkräften. Ein völlig fixer exaltirter Wahn,
wenn er einmal über ein halbes Jahr gedauert hat, verschwindet
nicht leicht wieder; doch kommen auch hier einzelne Fälle vor, wo
nach mehrjähriger Dauer namentlich unter Entwicklung anderweitiger
Krankheitsprocesse der Wahnsinn allmählig verschwindet. Alle Zeichen
beginnender psychischer Schwäche, Abnahme des Gedächtnisses, neu
auftretende Verworrenheit etc. zeigen Unheilbarkeit an.

Genest der Kranke nicht, so bleibt er niemals sein ganzes künftiges
Lehen in dem Zustande hoher gemüthlicher Exaltation, der dem Wahn-
sinn eigen ist; der affirmative Affect, die gehobene Stimmung selbst
erlöschen vielmehr und es bleiben nur deren Producte, die fixen
Wahnvorstellungen zurück, mit Wiederkehr änsserer Ruhe und eines
besseren körperlichen Befindens. Oder der Kranke verfällt sogleich,
indem sich tiefere anatomische Läsionen in der Schädelhöhle gebildet
haben, in allmählig weiter schreitenden Blödsinn.

§. 119.

Von hohem Interesse ist die grosse Aehnlichkeit im Grundzustande,
den Aeusserungen und Ausgängen der maniacalischen Formen mit
den entsprechenden Verhältnissen der Alcoholnarcose, der Trunken-
heit. Schon in den Vorläufern beginnt oft diese Aehnlichkeit. Es gibt

Verlauf des Wahnsinns.
zurücktritt und sich nur einzelne wenige, aber bleibende fixiren, je
mehr in der früheren Individualität des Kranken schon Eigenthüm-
lichkeiten lagen, welche eine baldige Durchdringung und Verfälschung
des Ich von ihnen begünstigen, um so weniger ist eine Rückkehr
aus dieser Traumwelt zu erwarten.

Im Verlaufe dieser Zustände treten mehr scheinbare, als wahre
Remissionen ein, sie bestehen mehr in äusserer Beruhigung, als in
innerem Nachlass, in einer stilleren Beschäftigung mit dem Delirium;
völlige Intermissionen kommen nur da vor, wo der Zustand noch
zwischen Tobsucht nnd Wahnsinn schwankt.

Der Kranke kann genesen; dann fällt es ihm oft wie Schuppen
von den Augen, er erwacht wie aus einem Traum und kann dann
nicht begreifen, warum ein einfaches Raisonnement in Bezug auf
seinen Wahn, das ihm jetzt ganz klar ist, während der Krankheit
durchaus keinen Eindruck auf ihn machen konnte. Jetzt ist er em-
pfänglich für Gründe, und es ist hier wirklich oft nöthig, dem Ver-
ständniss des Reconvalescenten durch Erklärungen und demonstratio
ad oculos nachzuhelfen, um die Wahnvorstellungen, die noch hier
und da auftauchen, aber von dem Kranken schon als Irrthümer er-
kannt werden, ganz zu entkräften. Ein völlig fixer exaltirter Wahn,
wenn er einmal über ein halbes Jahr gedauert hat, verschwindet
nicht leicht wieder; doch kommen auch hier einzelne Fälle vor, wo
nach mehrjähriger Dauer namentlich unter Entwicklung anderweitiger
Krankheitsprocesse der Wahnsinn allmählig verschwindet. Alle Zeichen
beginnender psychischer Schwäche, Abnahme des Gedächtnisses, neu
auftretende Verworrenheit etc. zeigen Unheilbarkeit an.

Genest der Kranke nicht, so bleibt er niemals sein ganzes künftiges
Lehen in dem Zustande hoher gemüthlicher Exaltation, der dem Wahn-
sinn eigen ist; der affirmative Affect, die gehobene Stimmung selbst
erlöschen vielmehr und es bleiben nur deren Producte, die fixen
Wahnvorstellungen zurück, mit Wiederkehr änsserer Ruhe und eines
besseren körperlichen Befindens. Oder der Kranke verfällt sogleich,
indem sich tiefere anatomische Läsionen in der Schädelhöhle gebildet
haben, in allmählig weiter schreitenden Blödsinn.

§. 119.

Von hohem Interesse ist die grosse Aehnlichkeit im Grundzustande,
den Aeusserungen und Ausgängen der maniacalischen Formen mit
den entsprechenden Verhältnissen der Alcoholnarcose, der Trunken-
heit. Schon in den Vorläufern beginnt oft diese Aehnlichkeit. Es gibt

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[245/0259] Verlauf des Wahnsinns. zurücktritt und sich nur einzelne wenige, aber bleibende fixiren, je mehr in der früheren Individualität des Kranken schon Eigenthüm- lichkeiten lagen, welche eine baldige Durchdringung und Verfälschung des Ich von ihnen begünstigen, um so weniger ist eine Rückkehr aus dieser Traumwelt zu erwarten. Im Verlaufe dieser Zustände treten mehr scheinbare, als wahre Remissionen ein, sie bestehen mehr in äusserer Beruhigung, als in innerem Nachlass, in einer stilleren Beschäftigung mit dem Delirium; völlige Intermissionen kommen nur da vor, wo der Zustand noch zwischen Tobsucht nnd Wahnsinn schwankt. Der Kranke kann genesen; dann fällt es ihm oft wie Schuppen von den Augen, er erwacht wie aus einem Traum und kann dann nicht begreifen, warum ein einfaches Raisonnement in Bezug auf seinen Wahn, das ihm jetzt ganz klar ist, während der Krankheit durchaus keinen Eindruck auf ihn machen konnte. Jetzt ist er em- pfänglich für Gründe, und es ist hier wirklich oft nöthig, dem Ver- ständniss des Reconvalescenten durch Erklärungen und demonstratio ad oculos nachzuhelfen, um die Wahnvorstellungen, die noch hier und da auftauchen, aber von dem Kranken schon als Irrthümer er- kannt werden, ganz zu entkräften. Ein völlig fixer exaltirter Wahn, wenn er einmal über ein halbes Jahr gedauert hat, verschwindet nicht leicht wieder; doch kommen auch hier einzelne Fälle vor, wo nach mehrjähriger Dauer namentlich unter Entwicklung anderweitiger Krankheitsprocesse der Wahnsinn allmählig verschwindet. Alle Zeichen beginnender psychischer Schwäche, Abnahme des Gedächtnisses, neu auftretende Verworrenheit etc. zeigen Unheilbarkeit an. Genest der Kranke nicht, so bleibt er niemals sein ganzes künftiges Lehen in dem Zustande hoher gemüthlicher Exaltation, der dem Wahn- sinn eigen ist; der affirmative Affect, die gehobene Stimmung selbst erlöschen vielmehr und es bleiben nur deren Producte, die fixen Wahnvorstellungen zurück, mit Wiederkehr änsserer Ruhe und eines besseren körperlichen Befindens. Oder der Kranke verfällt sogleich, indem sich tiefere anatomische Läsionen in der Schädelhöhle gebildet haben, in allmählig weiter schreitenden Blödsinn. §. 119. Von hohem Interesse ist die grosse Aehnlichkeit im Grundzustande, den Aeusserungen und Ausgängen der maniacalischen Formen mit den entsprechenden Verhältnissen der Alcoholnarcose, der Trunken- heit. Schon in den Vorläufern beginnt oft diese Aehnlichkeit. Es gibt

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Zitationshilfe: Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845, S. 245. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845/259>, abgerufen am 21.11.2024.