Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845.

Bild:
<< vorherige Seite

Statistisches über den Selbstmord.
Er ist unter Männern weit häufiger, als beim weiblichen Geschlecht.
Die genaueren Statistiken der neuesten Zeit zeigen seine auffallende,
stetig progressive Vermehrung. Für Berlin hat diess Casper nach-
gewiesen; für Frankreich ergibt die officielle Statistik des Justiz-
ministeriums in den 10 Jahren von 1827 bis 1837 die ausserordent-
liche Zunahme um ein ganzes Viertheil. -- Bekannt ist die nicht
seltene Verbreitung des Selbstmords durch Nachahmung, für welche
von den milesischen Jungfrauen an, von denen Plutarch erzählt, bis
zu dem bekannten Vorfalle im Pariser Invalidenhause und bis zu den
p. 108 erwähnten Kinderselbstmorden zahlreiche Beispiele vorliegen.
In allen Zeiten kamen auch die Doppelselbstmorde von Personen
zweierlei Geschlechts und die mit vorausgegangenen Gewaltthaten an
Anderen complicirten Fälle vor.

In dem Jahrzehend von 1827--37 betrug die Zahl der Selbstmorde in
Frankreich 21,345; während es aber A. 1827 erst 1,542 (1 : 20,660 Einw.)
waren, war die Zahl bis 1837 allmählig auf 2,443 (1 : 14,338 Einwohner)
gestiegen. *) Archambault **) versichert übrigens, dass diese Zunahme eine
scheinbare sei und nur von der zunehmenden Sorgfalt und Genauigkeit der Sta-
tistik herrühre. Unter den Selbstmördern des Jahres 1836 war bei einem Drit-
theil (offenbares) Irresein vorhanden (Dufau, p. 306); die Gegenden Frank-
reichs, welche die meisten Selbstmörder liefern, ergeben auch die grösste Zahl
von Geisteskranken; diejenigen 10 Departements, welche in der Menge der Selbst-
entleibungen oben anstehen, gehören übrigens zu den aufgeklärtesten und indu-
striösesten und es sind durchaus nicht dieselben, in denen am meisten Verbrechen
gegen Personen vorfallen. ***) Dass übrigens der Selbstmord auch unter den
Landleuten in einem Verhältnisse, das dem der grossen Städte nahe kommt,
häufig sein kann, hat Cazauvielh wenigstens für eine Gegend Frankreichs
nachgewiesen. In der Mehrzahl der Fälle, welche die obige Statistik begreift,
geschah die Entleibung durch Ertränken, darauf folgend durch Erhängen, und
schon viel seltener durch Feuerwaffen; in England und Deutschland dagegen bil-
deten die Erhängungen die grosse Mehrzahl. +) Die Ausführung der meisten Selbst-
morde fällt in die Morgenstunden; ++) vielleicht deutet diess darauf hin, dass die
letzte Determination dieser Unglücklichen meistens in der Stille der Nacht erfolgt.

§. 103.

Die meisten Geisteskranken, bei denen der Trieb zum Selbst-
mord vorkommt, leiden an einer ausgesprochenen Form von Schwer-
muth. Die nähere psychologische Begründung des Triebs ist dann
aber nicht immer dieselbe. Häufig ist es der unerträgliche Excess

*) Dufau, traite de statistique. Par. 1840. p. 298 seqq.
**) Annal. med. psych. 1843. I. p. 174.
***) A. Legoyt, La France statistique. Par. 1843. Tabl. E.
+) Quetelet, l. c. p. 479.
++) ibidem p. 491.

Statistisches über den Selbstmord.
Er ist unter Männern weit häufiger, als beim weiblichen Geschlecht.
Die genaueren Statistiken der neuesten Zeit zeigen seine auffallende,
stetig progressive Vermehrung. Für Berlin hat diess Casper nach-
gewiesen; für Frankreich ergibt die officielle Statistik des Justiz-
ministeriums in den 10 Jahren von 1827 bis 1837 die ausserordent-
liche Zunahme um ein ganzes Viertheil. — Bekannt ist die nicht
seltene Verbreitung des Selbstmords durch Nachahmung, für welche
von den milesischen Jungfrauen an, von denen Plutarch erzählt, bis
zu dem bekannten Vorfalle im Pariser Invalidenhause und bis zu den
p. 108 erwähnten Kinderselbstmorden zahlreiche Beispiele vorliegen.
In allen Zeiten kamen auch die Doppelselbstmorde von Personen
zweierlei Geschlechts und die mit vorausgegangenen Gewaltthaten an
Anderen complicirten Fälle vor.

In dem Jahrzehend von 1827—37 betrug die Zahl der Selbstmorde in
Frankreich 21,345; während es aber A. 1827 erst 1,542 (1 : 20,660 Einw.)
waren, war die Zahl bis 1837 allmählig auf 2,443 (1 : 14,338 Einwohner)
gestiegen. *) Archambault **) versichert übrigens, dass diese Zunahme eine
scheinbare sei und nur von der zunehmenden Sorgfalt und Genauigkeit der Sta-
tistik herrühre. Unter den Selbstmördern des Jahres 1836 war bei einem Drit-
theil (offenbares) Irresein vorhanden (Dufau, p. 306); die Gegenden Frank-
reichs, welche die meisten Selbstmörder liefern, ergeben auch die grösste Zahl
von Geisteskranken; diejenigen 10 Departements, welche in der Menge der Selbst-
entleibungen oben anstehen, gehören übrigens zu den aufgeklärtesten und indu-
striösesten und es sind durchaus nicht dieselben, in denen am meisten Verbrechen
gegen Personen vorfallen. ***) Dass übrigens der Selbstmord auch unter den
Landleuten in einem Verhältnisse, das dem der grossen Städte nahe kommt,
häufig sein kann, hat Cazauvielh wenigstens für eine Gegend Frankreichs
nachgewiesen. In der Mehrzahl der Fälle, welche die obige Statistik begreift,
geschah die Entleibung durch Ertränken, darauf folgend durch Erhängen, und
schon viel seltener durch Feuerwaffen; in England und Deutschland dagegen bil-
deten die Erhängungen die grosse Mehrzahl. †) Die Ausführung der meisten Selbst-
morde fällt in die Morgenstunden; ††) vielleicht deutet diess darauf hin, dass die
letzte Determination dieser Unglücklichen meistens in der Stille der Nacht erfolgt.

§. 103.

Die meisten Geisteskranken, bei denen der Trieb zum Selbst-
mord vorkommt, leiden an einer ausgesprochenen Form von Schwer-
muth. Die nähere psychologische Begründung des Triebs ist dann
aber nicht immer dieselbe. Häufig ist es der unerträgliche Excess

*) Dufau, traité de statistique. Par. 1840. p. 298 seqq.
**) Annal. med. psych. 1843. I. p. 174.
***) A. Legoyt, La France statistique. Par. 1843. Tabl. E.
†) Quetelet, l. c. p. 479.
††) ibidem p. 491.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0208" n="194"/><fw place="top" type="header">Statistisches über den Selbstmord.</fw><lb/>
Er ist unter Männern weit häufiger, als beim weiblichen Geschlecht.<lb/>
Die genaueren Statistiken der neuesten Zeit zeigen seine auffallende,<lb/>
stetig progressive Vermehrung. Für Berlin hat diess Casper nach-<lb/>
gewiesen; für Frankreich ergibt die officielle Statistik des Justiz-<lb/>
ministeriums in den 10 Jahren von 1827 bis 1837 die ausserordent-<lb/>
liche Zunahme um ein ganzes Viertheil. &#x2014; Bekannt ist die nicht<lb/>
seltene Verbreitung des Selbstmords durch Nachahmung, für welche<lb/>
von den milesischen Jungfrauen an, von denen Plutarch erzählt, bis<lb/>
zu dem bekannten Vorfalle im Pariser Invalidenhause und bis zu den<lb/>
p. 108 erwähnten Kinderselbstmorden zahlreiche Beispiele vorliegen.<lb/>
In allen Zeiten kamen auch die Doppelselbstmorde von Personen<lb/>
zweierlei Geschlechts und die mit vorausgegangenen Gewaltthaten an<lb/>
Anderen complicirten Fälle vor.</p><lb/>
              <p>In dem Jahrzehend von 1827&#x2014;37 betrug die Zahl der Selbstmorde in<lb/>
Frankreich 21,345; während es aber A. 1827 erst 1,542 (1 : 20,660 Einw.)<lb/>
waren, war die Zahl bis 1837 allmählig auf 2,443 (1 : 14,338 Einwohner)<lb/>
gestiegen. <note place="foot" n="*)">Dufau, traité de statistique. Par. 1840. p. 298 seqq.</note> Archambault <note place="foot" n="**)">Annal. med. psych. 1843. I. p. 174.</note> versichert übrigens, dass diese Zunahme eine<lb/>
scheinbare sei und nur von der zunehmenden Sorgfalt und Genauigkeit der Sta-<lb/>
tistik herrühre. Unter den Selbstmördern des Jahres 1836 war bei einem Drit-<lb/>
theil (<hi rendition="#g">offenbares</hi>) Irresein vorhanden (Dufau, p. 306); die Gegenden Frank-<lb/>
reichs, welche die meisten Selbstmörder liefern, ergeben auch die grösste Zahl<lb/>
von Geisteskranken; diejenigen 10 Departements, welche in der Menge der Selbst-<lb/>
entleibungen oben anstehen, gehören übrigens zu den aufgeklärtesten und indu-<lb/>
striösesten und es sind durchaus nicht dieselben, in denen am meisten Verbrechen<lb/>
gegen Personen vorfallen. <note place="foot" n="***)">A. Legoyt, La France statistique. Par. 1843. Tabl. E.</note> Dass übrigens der Selbstmord auch unter den<lb/>
Landleuten in einem Verhältnisse, das dem der grossen Städte nahe kommt,<lb/>
häufig sein kann, hat Cazauvielh wenigstens für eine Gegend Frankreichs<lb/>
nachgewiesen. In der Mehrzahl der Fälle, welche die obige Statistik begreift,<lb/>
geschah die Entleibung durch Ertränken, darauf folgend durch Erhängen, und<lb/>
schon viel seltener durch Feuerwaffen; in England und Deutschland dagegen bil-<lb/>
deten die Erhängungen die grosse Mehrzahl. <note place="foot" n="&#x2020;)">Quetelet, l. c. p. 479.</note> Die Ausführung der meisten Selbst-<lb/>
morde fällt in die Morgenstunden; <note place="foot" n="&#x2020;&#x2020;)">ibidem p. 491.</note> vielleicht deutet diess darauf hin, dass die<lb/>
letzte Determination dieser Unglücklichen meistens in der Stille der Nacht erfolgt.</p><lb/>
              <div n="5">
                <head>§. 103.</head><lb/>
                <p>Die meisten Geisteskranken, bei denen der Trieb zum Selbst-<lb/>
mord vorkommt, leiden an einer ausgesprochenen Form von Schwer-<lb/>
muth. Die nähere psychologische Begründung des Triebs ist dann<lb/>
aber nicht immer dieselbe. Häufig ist es der unerträgliche Excess<lb/></p>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[194/0208] Statistisches über den Selbstmord. Er ist unter Männern weit häufiger, als beim weiblichen Geschlecht. Die genaueren Statistiken der neuesten Zeit zeigen seine auffallende, stetig progressive Vermehrung. Für Berlin hat diess Casper nach- gewiesen; für Frankreich ergibt die officielle Statistik des Justiz- ministeriums in den 10 Jahren von 1827 bis 1837 die ausserordent- liche Zunahme um ein ganzes Viertheil. — Bekannt ist die nicht seltene Verbreitung des Selbstmords durch Nachahmung, für welche von den milesischen Jungfrauen an, von denen Plutarch erzählt, bis zu dem bekannten Vorfalle im Pariser Invalidenhause und bis zu den p. 108 erwähnten Kinderselbstmorden zahlreiche Beispiele vorliegen. In allen Zeiten kamen auch die Doppelselbstmorde von Personen zweierlei Geschlechts und die mit vorausgegangenen Gewaltthaten an Anderen complicirten Fälle vor. In dem Jahrzehend von 1827—37 betrug die Zahl der Selbstmorde in Frankreich 21,345; während es aber A. 1827 erst 1,542 (1 : 20,660 Einw.) waren, war die Zahl bis 1837 allmählig auf 2,443 (1 : 14,338 Einwohner) gestiegen. *) Archambault **) versichert übrigens, dass diese Zunahme eine scheinbare sei und nur von der zunehmenden Sorgfalt und Genauigkeit der Sta- tistik herrühre. Unter den Selbstmördern des Jahres 1836 war bei einem Drit- theil (offenbares) Irresein vorhanden (Dufau, p. 306); die Gegenden Frank- reichs, welche die meisten Selbstmörder liefern, ergeben auch die grösste Zahl von Geisteskranken; diejenigen 10 Departements, welche in der Menge der Selbst- entleibungen oben anstehen, gehören übrigens zu den aufgeklärtesten und indu- striösesten und es sind durchaus nicht dieselben, in denen am meisten Verbrechen gegen Personen vorfallen. ***) Dass übrigens der Selbstmord auch unter den Landleuten in einem Verhältnisse, das dem der grossen Städte nahe kommt, häufig sein kann, hat Cazauvielh wenigstens für eine Gegend Frankreichs nachgewiesen. In der Mehrzahl der Fälle, welche die obige Statistik begreift, geschah die Entleibung durch Ertränken, darauf folgend durch Erhängen, und schon viel seltener durch Feuerwaffen; in England und Deutschland dagegen bil- deten die Erhängungen die grosse Mehrzahl. †) Die Ausführung der meisten Selbst- morde fällt in die Morgenstunden; ††) vielleicht deutet diess darauf hin, dass die letzte Determination dieser Unglücklichen meistens in der Stille der Nacht erfolgt. §. 103. Die meisten Geisteskranken, bei denen der Trieb zum Selbst- mord vorkommt, leiden an einer ausgesprochenen Form von Schwer- muth. Die nähere psychologische Begründung des Triebs ist dann aber nicht immer dieselbe. Häufig ist es der unerträgliche Excess *) Dufau, traité de statistique. Par. 1840. p. 298 seqq. **) Annal. med. psych. 1843. I. p. 174. ***) A. Legoyt, La France statistique. Par. 1843. Tabl. E. †) Quetelet, l. c. p. 479. ††) ibidem p. 491.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845/208
Zitationshilfe: Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845, S. 194. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845/208>, abgerufen am 21.11.2024.