Die hypochondrischen Zustände stellen die mildeste, mässigste Form des Irreseins dar, und haben manche Eigenthümlichkeiten, die sie von den andern Formen der Schwermuth wesentlich unterschei- den. Denn während sie allerdings mit diesen den Classencharacter der niedergeschlagenen, traurigen, depressiven Gemüthsverstimmung, der verminderten Energie des Willens und eines jener Stimmung entsprechenden Deliriums theilen, so differiren sie auf characteri- stische Weise dadurch, dass hier die Gemüthsdepression aus einem starken, körperlichen Krankheitsgefühle hervorgeht, das die Aufmerksamkeit beständig lebhaft in Anspruch nimmt, dass sich dess- halb die falschen Urtheile fast ausschliesslich auf den Gesundheits- zustand des Subjects beziehen, und dasselbe nun in Besorgnissen eigener schwerer Erkrankung, in ungegründeten und bizarren An- sichten über die Art und Weise und die Gefährlichkeit dieser seiner Krankheit delirirt. Jenes körperliche Gefühl des Krankseins ist bald ein dunkles und allgemeines, bald ist es in einzelne, anomale Sen- sationen auseinandergegangen; es beruht häufig auf Irritation der Nervencentra von peripherischen, oft sehr versteckten und dunkeln Erkrankungen der Eingeweide aus, aber es wird auch central, durch direct psychische Ursachen hervorgerufen (Lesen medicinischer Schriften, ansteckender Umgang mit Hypochondristen). Immer wer- den diese krankhaften Empfindungen durch die Richtung der Auf- merksamkeit auf sie gesteigert, und bei einigermassen ausgebildetem Zustande können solche durch die Richtung des Vorstellens auf dieses oder jenes Organ geweckt, deplacirt und in jedem Theile des Or- ganismus neu hervorgerufen werden. -- Was den geistigen Antheil an der Krankheit betrifft, so ist, ungeachtet der Gemüthsverstimmung und der falschen Vorstellungen, doch die äussere Besonnenheit ge- wöhnlich lange erhalten, die anomalen Empfindungen und Vorstel- lungen werden logisch zusammenhängend und consequent verarbeitet, und mit Gründen, welche doch innerhalb des Bereichs der Möglich- keit liegen, gerechtfertigt. Eben durch diesen Mangel eigentlicher Verstandesverwirrung erscheint die Hypochondrie wesentlich als schwermüthige Folie raisonnante*), deren entsprechenden
*) Es gibt kein erschöpfend-entsprechendes deutsches Wort.
Erstes Capitel. Die Hypochondrie.
§. 90.
Die hypochondrischen Zustände stellen die mildeste, mässigste Form des Irreseins dar, und haben manche Eigenthümlichkeiten, die sie von den andern Formen der Schwermuth wesentlich unterschei- den. Denn während sie allerdings mit diesen den Classencharacter der niedergeschlagenen, traurigen, depressiven Gemüthsverstimmung, der verminderten Energie des Willens und eines jener Stimmung entsprechenden Deliriums theilen, so differiren sie auf characteri- stische Weise dadurch, dass hier die Gemüthsdepression aus einem starken, körperlichen Krankheitsgefühle hervorgeht, das die Aufmerksamkeit beständig lebhaft in Anspruch nimmt, dass sich dess- halb die falschen Urtheile fast ausschliesslich auf den Gesundheits- zustand des Subjects beziehen, und dasselbe nun in Besorgnissen eigener schwerer Erkrankung, in ungegründeten und bizarren An- sichten über die Art und Weise und die Gefährlichkeit dieser seiner Krankheit delirirt. Jenes körperliche Gefühl des Krankseins ist bald ein dunkles und allgemeines, bald ist es in einzelne, anomale Sen- sationen auseinandergegangen; es beruht häufig auf Irritation der Nervencentra von peripherischen, oft sehr versteckten und dunkeln Erkrankungen der Eingeweide aus, aber es wird auch central, durch direct psychische Ursachen hervorgerufen (Lesen medicinischer Schriften, ansteckender Umgang mit Hypochondristen). Immer wer- den diese krankhaften Empfindungen durch die Richtung der Auf- merksamkeit auf sie gesteigert, und bei einigermassen ausgebildetem Zustande können solche durch die Richtung des Vorstellens auf dieses oder jenes Organ geweckt, deplaçirt und in jedem Theile des Or- ganismus neu hervorgerufen werden. — Was den geistigen Antheil an der Krankheit betrifft, so ist, ungeachtet der Gemüthsverstimmung und der falschen Vorstellungen, doch die äussere Besonnenheit ge- wöhnlich lange erhalten, die anomalen Empfindungen und Vorstel- lungen werden logisch zusammenhängend und consequent verarbeitet, und mit Gründen, welche doch innerhalb des Bereichs der Möglich- keit liegen, gerechtfertigt. Eben durch diesen Mangel eigentlicher Verstandesverwirrung erscheint die Hypochondrie wesentlich als schwermüthige Folie raisonnante*), deren entsprechenden
*) Es gibt kein erschöpfend-entsprechendes deutsches Wort.
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Erstes Capitel.
Die Hypochondrie.
§. 90.
Die hypochondrischen Zustände stellen die mildeste, mässigste
Form des Irreseins dar, und haben manche Eigenthümlichkeiten, die
sie von den andern Formen der Schwermuth wesentlich unterschei-
den. Denn während sie allerdings mit diesen den Classencharacter
der niedergeschlagenen, traurigen, depressiven Gemüthsverstimmung,
der verminderten Energie des Willens und eines jener Stimmung
entsprechenden Deliriums theilen, so differiren sie auf characteri-
stische Weise dadurch, dass hier die Gemüthsdepression aus einem
starken, körperlichen Krankheitsgefühle hervorgeht, das die
Aufmerksamkeit beständig lebhaft in Anspruch nimmt, dass sich dess-
halb die falschen Urtheile fast ausschliesslich auf den Gesundheits-
zustand des Subjects beziehen, und dasselbe nun in Besorgnissen
eigener schwerer Erkrankung, in ungegründeten und bizarren An-
sichten über die Art und Weise und die Gefährlichkeit dieser seiner
Krankheit delirirt. Jenes körperliche Gefühl des Krankseins ist bald
ein dunkles und allgemeines, bald ist es in einzelne, anomale Sen-
sationen auseinandergegangen; es beruht häufig auf Irritation der
Nervencentra von peripherischen, oft sehr versteckten und dunkeln
Erkrankungen der Eingeweide aus, aber es wird auch central,
durch direct psychische Ursachen hervorgerufen (Lesen medicinischer
Schriften, ansteckender Umgang mit Hypochondristen). Immer wer-
den diese krankhaften Empfindungen durch die Richtung der Auf-
merksamkeit auf sie gesteigert, und bei einigermassen ausgebildetem
Zustande können solche durch die Richtung des Vorstellens auf dieses
oder jenes Organ geweckt, deplaçirt und in jedem Theile des Or-
ganismus neu hervorgerufen werden. — Was den geistigen Antheil
an der Krankheit betrifft, so ist, ungeachtet der Gemüthsverstimmung
und der falschen Vorstellungen, doch die äussere Besonnenheit ge-
wöhnlich lange erhalten, die anomalen Empfindungen und Vorstel-
lungen werden logisch zusammenhängend und consequent verarbeitet,
und mit Gründen, welche doch innerhalb des Bereichs der Möglich-
keit liegen, gerechtfertigt. Eben durch diesen Mangel eigentlicher
Verstandesverwirrung erscheint die Hypochondrie wesentlich als
schwermüthige Folie raisonnante *), deren entsprechenden
*) Es gibt kein erschöpfend-entsprechendes deutsches Wort.
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Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845, S. 154. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845/168>, abgerufen am 21.12.2024.
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