Was endlich der Einfluss des Mondes, wenn auch nicht auf Erzeugung, doch auf Steigerung und Abänderung des Irreseins in seinem Verlaufe hetrifft, so wird derselbe von der grossen Mehrzahl der Irrenärzte geläugnet, und es hiesse jeder pathologischen Untersuchung Hohn sprechen, wenn z. B. die periodische Wiederkehr von Tobsucht- anfällen, desswegen weil sie mit gewissen regelmässigen Veränder- ungen am Himmel zusammentrifft, dem Einfluss der Gestirne zuge- schrieben würde. Desshalb soll aber eine Einwirkung des Mond- lichts auf die Geisteskranken nicht geläugnet werden. Schon die Ge- dankenbewegung des Gesunden kann durch dasselbe eigenthümlich afficirt werden, z. B. in der Form jener sehnsüchtigen, elegischen Stimmungen, welche den geläufigen Vorwurf einer mondsüchtigen Poesie bilden; bei Geisteskranken, die von so manchen sinnlichen Eindrücken stärker und anders erregt werden, als Gesunde, mag bei mangelndem Schlaf der Anblick des vollen, glänzenden Mondes, der unbestimmten Be- leuchtung, der vorüberhuschenden Wolkenschatten, verbunden mit der Stille der Nacht oder den confusen Tönen, welche Nachts durch die Irrenanstalten ziehen, wohl noch grössere Eindrücke, lebhaftere Ge- müthsbewegungen, Anlässe zu mancherlei Hallucinationen und dergl. setzen. In der That hat der kluge Esquirol die Unruhe, die man bei mehreren Kranken regelmässig zur Zeit des Vollmonds bemerkte, durch herabgelassene Gardinen beseitigt.
Zweites Capitel. Die individuelle Prädisposition.
§. 71.
1) Erblichkeit. Die statistischen Untersuchungen bekräftigen aufs entschiedenste die allgemeine Ansicht der Laien und Aerzte, dass dem Irrewerden in einer grossen Zahl von Fällen eine angeborne Anlage zu Grunde liege. Im Einzelnen differiren aber die Angaben nach den individuellen Erfahrungen, zum Theil auch nach den Men- schenklassen und den Orten, auf die sich die Untersuchung bezog, sehr bedeutend. Das enorme Verhältniss, das Burrows angibt (Erb- lichkeit in 6/7 der Fälle), wird durch keine Statistik erwiesen; Esqui- rol *) fand sie bei den Armen in mehr als 1/4, bei den Reichen in
*) Die Geisteskrankheiten übers. v. Bernhard. I. p. 38. Tabelle.
Individuelle Prädisposition.
Was endlich der Einfluss des Mondes, wenn auch nicht auf Erzeugung, doch auf Steigerung und Abänderung des Irreseins in seinem Verlaufe hetrifft, so wird derselbe von der grossen Mehrzahl der Irrenärzte geläugnet, und es hiesse jeder pathologischen Untersuchung Hohn sprechen, wenn z. B. die periodische Wiederkehr von Tobsucht- anfällen, desswegen weil sie mit gewissen regelmässigen Veränder- ungen am Himmel zusammentrifft, dem Einfluss der Gestirne zuge- schrieben würde. Desshalb soll aber eine Einwirkung des Mond- lichts auf die Geisteskranken nicht geläugnet werden. Schon die Ge- dankenbewegung des Gesunden kann durch dasselbe eigenthümlich afficirt werden, z. B. in der Form jener sehnsüchtigen, elegischen Stimmungen, welche den geläufigen Vorwurf einer mondsüchtigen Poesie bilden; bei Geisteskranken, die von so manchen sinnlichen Eindrücken stärker und anders erregt werden, als Gesunde, mag bei mangelndem Schlaf der Anblick des vollen, glänzenden Mondes, der unbestimmten Be- leuchtung, der vorüberhuschenden Wolkenschatten, verbunden mit der Stille der Nacht oder den confusen Tönen, welche Nachts durch die Irrenanstalten ziehen, wohl noch grössere Eindrücke, lebhaftere Ge- müthsbewegungen, Anlässe zu mancherlei Hallucinationen und dergl. setzen. In der That hat der kluge Esquirol die Unruhe, die man bei mehreren Kranken regelmässig zur Zeit des Vollmonds bemerkte, durch herabgelassene Gardinen beseitigt.
Zweites Capitel. Die individuelle Prädisposition.
§. 71.
1) Erblichkeit. Die statistischen Untersuchungen bekräftigen aufs entschiedenste die allgemeine Ansicht der Laien und Aerzte, dass dem Irrewerden in einer grossen Zahl von Fällen eine angeborne Anlage zu Grunde liege. Im Einzelnen differiren aber die Angaben nach den individuellen Erfahrungen, zum Theil auch nach den Men- schenklassen und den Orten, auf die sich die Untersuchung bezog, sehr bedeutend. Das enorme Verhältniss, das Burrows angibt (Erb- lichkeit in 6/7 der Fälle), wird durch keine Statistik erwiesen; Esqui- rol *) fand sie bei den Armen in mehr als ¼, bei den Reichen in
*) Die Geisteskrankheiten übers. v. Bernhard. I. p. 38. Tabelle.
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Individuelle Prädisposition.
Was endlich der Einfluss des Mondes, wenn auch nicht auf
Erzeugung, doch auf Steigerung und Abänderung des Irreseins in seinem
Verlaufe hetrifft, so wird derselbe von der grossen Mehrzahl der
Irrenärzte geläugnet, und es hiesse jeder pathologischen Untersuchung
Hohn sprechen, wenn z. B. die periodische Wiederkehr von Tobsucht-
anfällen, desswegen weil sie mit gewissen regelmässigen Veränder-
ungen am Himmel zusammentrifft, dem Einfluss der Gestirne zuge-
schrieben würde. Desshalb soll aber eine Einwirkung des Mond-
lichts auf die Geisteskranken nicht geläugnet werden. Schon die Ge-
dankenbewegung des Gesunden kann durch dasselbe eigenthümlich afficirt
werden, z. B. in der Form jener sehnsüchtigen, elegischen Stimmungen,
welche den geläufigen Vorwurf einer mondsüchtigen Poesie bilden; bei
Geisteskranken, die von so manchen sinnlichen Eindrücken stärker
und anders erregt werden, als Gesunde, mag bei mangelndem Schlaf
der Anblick des vollen, glänzenden Mondes, der unbestimmten Be-
leuchtung, der vorüberhuschenden Wolkenschatten, verbunden mit der
Stille der Nacht oder den confusen Tönen, welche Nachts durch die
Irrenanstalten ziehen, wohl noch grössere Eindrücke, lebhaftere Ge-
müthsbewegungen, Anlässe zu mancherlei Hallucinationen und dergl.
setzen. In der That hat der kluge Esquirol die Unruhe, die man
bei mehreren Kranken regelmässig zur Zeit des Vollmonds bemerkte,
durch herabgelassene Gardinen beseitigt.
Zweites Capitel.
Die individuelle Prädisposition.
§. 71.
1) Erblichkeit. Die statistischen Untersuchungen bekräftigen
aufs entschiedenste die allgemeine Ansicht der Laien und Aerzte,
dass dem Irrewerden in einer grossen Zahl von Fällen eine angeborne
Anlage zu Grunde liege. Im Einzelnen differiren aber die Angaben
nach den individuellen Erfahrungen, zum Theil auch nach den Men-
schenklassen und den Orten, auf die sich die Untersuchung bezog,
sehr bedeutend. Das enorme Verhältniss, das Burrows angibt (Erb-
lichkeit in 6/7 der Fälle), wird durch keine Statistik erwiesen; Esqui-
rol *) fand sie bei den Armen in mehr als ¼, bei den Reichen in
*) Die Geisteskrankheiten übers. v. Bernhard. I. p. 38. Tabelle.
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Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845, S. 112. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845/126>, abgerufen am 21.11.2024.
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