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Die Grenzboten. Jg. 80, 1921, Drittes Vierteljahr.

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Manch verwandtes Gemüt treibt mit
mir im Strom des Jahrhunderts; aber
der Strom zerrinnt und wir erkannten
Ferien uns nicht.



Masse und Persönlichkeit
Dr. Siegfried sicher von

riedrich Ratzel schreibt in seinen Feldzugserinnerungen von 1870/71:
"Hundertausend Einzelmänner werden in die Masse hineingeschmiedet
und werden als bessere gehärtet hervorgehen, nachdem das Feuer
dieser Tage sie durchglüht haben wird." Das sind Erlebnisse einer
starken Persönlichkeit, psychologische Erfahrungen, wie wir alle solche
im Verlaufs des Weltkrieges gemacht haben. Aber auch in der Revolution und
in dem Parteiringen unserer Zeit ist uns zu Bewußtsein gekommen, wie stark der
Gegensatz zwischen Masse und Einzelmensch noch heute sich ausprägt. Gerade die
Gebildeten, die gewissermaßen den Marschallstab als Führer der Masse im Tornister
zu tragen meinen, empfinden es um so härter, wenn sie Massenmenschen werden
sollen. Sie halten sich darum möglichst fern von allem, was nach Masse dürstet,
sie werden oder bleiben Eigenbrötler, sie. gehen auf diese Weise der Organisation
verloren, das wirtschaftliche Leben dieser Kreise verfällt, ihre Bedeutung für das
politische Leben sinkt, wenn es nicht gelingt, die Gebildeten zur rechten Beteiligung
an der Masse zur erziehen.

Muß denn der einzelne bisweilen in die Flut der Masse niedertauchen?
Er tut es täglich. Wir selbst sind uns dessen nicht bewußt, wie fest wir mit allen
Fasern unseres Seins verwachsen sind in der Masse. In Sitte und Brauch, in
Mode und Stil, in politischen und wissenschaftlichen Anschauungen gehören wir
zu irgend einer Masse, sei sie fortschrittlich, rückständig, völkisch, christlich oder wie
man sie sonst bezeichnen mag. Selbst die freieste Persönlichkeit wurzelt irgendwo
in der Masse, wenn sie auch auf diesem oder jenem Gebiete Bahnbrecher, Führer,
Neutöner ist. Je schärfer ausgeprägt eine solche Persönlichkeit ist, um so härter


Erenzboten III issi, 1


A usgegeben «M


Manch verwandtes Gemüt treibt mit
mir im Strom des Jahrhunderts; aber
der Strom zerrinnt und wir erkannten
Ferien uns nicht.



Masse und Persönlichkeit
Dr. Siegfried sicher von

riedrich Ratzel schreibt in seinen Feldzugserinnerungen von 1870/71:
„Hundertausend Einzelmänner werden in die Masse hineingeschmiedet
und werden als bessere gehärtet hervorgehen, nachdem das Feuer
dieser Tage sie durchglüht haben wird." Das sind Erlebnisse einer
starken Persönlichkeit, psychologische Erfahrungen, wie wir alle solche
im Verlaufs des Weltkrieges gemacht haben. Aber auch in der Revolution und
in dem Parteiringen unserer Zeit ist uns zu Bewußtsein gekommen, wie stark der
Gegensatz zwischen Masse und Einzelmensch noch heute sich ausprägt. Gerade die
Gebildeten, die gewissermaßen den Marschallstab als Führer der Masse im Tornister
zu tragen meinen, empfinden es um so härter, wenn sie Massenmenschen werden
sollen. Sie halten sich darum möglichst fern von allem, was nach Masse dürstet,
sie werden oder bleiben Eigenbrötler, sie. gehen auf diese Weise der Organisation
verloren, das wirtschaftliche Leben dieser Kreise verfällt, ihre Bedeutung für das
politische Leben sinkt, wenn es nicht gelingt, die Gebildeten zur rechten Beteiligung
an der Masse zur erziehen.

Muß denn der einzelne bisweilen in die Flut der Masse niedertauchen?
Er tut es täglich. Wir selbst sind uns dessen nicht bewußt, wie fest wir mit allen
Fasern unseres Seins verwachsen sind in der Masse. In Sitte und Brauch, in
Mode und Stil, in politischen und wissenschaftlichen Anschauungen gehören wir
zu irgend einer Masse, sei sie fortschrittlich, rückständig, völkisch, christlich oder wie
man sie sonst bezeichnen mag. Selbst die freieste Persönlichkeit wurzelt irgendwo
in der Masse, wenn sie auch auf diesem oder jenem Gebiete Bahnbrecher, Führer,
Neutöner ist. Je schärfer ausgeprägt eine solche Persönlichkeit ist, um so härter


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[0015] [Abbildung] A usgegeben «M Manch verwandtes Gemüt treibt mit mir im Strom des Jahrhunderts; aber der Strom zerrinnt und wir erkannten Ferien uns nicht. Masse und Persönlichkeit Dr. Siegfried sicher von riedrich Ratzel schreibt in seinen Feldzugserinnerungen von 1870/71: „Hundertausend Einzelmänner werden in die Masse hineingeschmiedet und werden als bessere gehärtet hervorgehen, nachdem das Feuer dieser Tage sie durchglüht haben wird." Das sind Erlebnisse einer starken Persönlichkeit, psychologische Erfahrungen, wie wir alle solche im Verlaufs des Weltkrieges gemacht haben. Aber auch in der Revolution und in dem Parteiringen unserer Zeit ist uns zu Bewußtsein gekommen, wie stark der Gegensatz zwischen Masse und Einzelmensch noch heute sich ausprägt. Gerade die Gebildeten, die gewissermaßen den Marschallstab als Führer der Masse im Tornister zu tragen meinen, empfinden es um so härter, wenn sie Massenmenschen werden sollen. Sie halten sich darum möglichst fern von allem, was nach Masse dürstet, sie werden oder bleiben Eigenbrötler, sie. gehen auf diese Weise der Organisation verloren, das wirtschaftliche Leben dieser Kreise verfällt, ihre Bedeutung für das politische Leben sinkt, wenn es nicht gelingt, die Gebildeten zur rechten Beteiligung an der Masse zur erziehen. Muß denn der einzelne bisweilen in die Flut der Masse niedertauchen? Er tut es täglich. Wir selbst sind uns dessen nicht bewußt, wie fest wir mit allen Fasern unseres Seins verwachsen sind in der Masse. In Sitte und Brauch, in Mode und Stil, in politischen und wissenschaftlichen Anschauungen gehören wir zu irgend einer Masse, sei sie fortschrittlich, rückständig, völkisch, christlich oder wie man sie sonst bezeichnen mag. Selbst die freieste Persönlichkeit wurzelt irgendwo in der Masse, wenn sie auch auf diesem oder jenem Gebiete Bahnbrecher, Führer, Neutöner ist. Je schärfer ausgeprägt eine solche Persönlichkeit ist, um so härter Erenzboten III issi, 1

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 80, 1921, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341913_339148/15>, abgerufen am 22.12.2024.