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Die Grenzboten. Jg. 80, 1921, Erstes Vierteljahr.

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Belgischer Brief

Es ist ein bequemes Ruhekissen, wenn man sich damit abfindet, die un¬
politische Art sei nun einmal deutsche Art, oder wenn man von Dekadenz¬
erscheinungen spricht, an denen nun einmal nichts zu ändern sei, da die "Ent¬
wicklung" "gesetzmäßig" dahin führe. Die Entwickluugstheoretiker sind oft
schlechte Historiker. Zum Teil sind, wie wir schon andeuteten, diejenigen, welche
auf die nicht zu ändernde deutsche Art hinweisen und uns sagen, wir müßten
uns, weil sie nun einmal so sei, fortan mit der müden Rolle des Verläumder
abfinden, selbst Miturheber dieser Art. Es gibt Politiker, welche erklären, heute
vor einer bedauerlichen "Krisis" zu stehen und selbst vorher durch die von ihnen
geforderte "Demobilisierung der Geister" mitgeholfen haben, die Krisis herbei¬
zuführend) Z. erwähnt ein Wort Rathenaus (S. 48), wonach den Deutschen die
zivilisatorische Kraft wegen ihres Mangels an entschlossener Haltung fehle.
Wir machen hierzu mit romantischer Ironie, die uns über die Dinge und Worte
erhebt, die Bemerkung, daß der Mangel an entschlossener und geschlossener
Haltung doch wohl nicht ohne Zusammenhang mit dem von Mommsen namhaft
gemachten, bei uns stärker als anderswo vertretenen terrnentum lieeamvositionis
sein dürfte.

So führt uns die geschichtliche Betrachtung von dem Schlagwort der
nicht zu ändernden deutschen unpolitischen Art oder der Dekadenzerscheinungen
überall auf die wahren Ursachen des gegenwärtigen Zustands. So wenig wir
eine dauernde Substanz der Nation leugnen, so bleibt es doch die Aufgabe des
Geschichtsforschers, die Fortbildung der Substanz und die Hindernisse, die
ihrer Fortbildung entgegentreten, aufzuzeigen. In dieser tapferen, unerschrocke¬
nen Art beweist er wiederum, daß die Art des müden Relcitivisteu nicht die
seinige ist.




Belgischer Brief
von einem gelegentlichen Mitarbeiter

le viele Leser der "Grenzboten" gibt es Wohl, die wissen, daß diese
Zeitschrift vor gerade achtzig Jahren in -- Brüssel gegründet
worden ist? Freilich ist sie dort nur kurze Zeit erschienen, aber
sie trägt von dort noch heute ihren Namen. Ihr Gründer Kuranda
wollte Deutschtum und Flamentum enger verknüpfen. Lange Jahr-
zehnte hindurch haben die "Grenzboten" dann unter Gustav Frehtags Leitung
hauptsächlich dein kleindeutschen Gedanken und dem jungen Deutschen Reich gedient.
Heute hat ihr Titel wieder einen symbolischen Klang bekommen, und ihr Aufgaben¬
kreis hat sich zu den Anfängen zurückgebogen. Sie wollen Boten sein von den
Grenzen und zu den Grenzen deS ringsum verstümmelten Deutschlands. 8it nomsn
onem! Aber wie haben sich die Zeiten verändert! Ich wünschte, ich säße an
Kurandas Schreibtisch statt an dem, worauf dieser Brief entsteht.



S) Vgl. meine "Parteiamtliche neue Geschichtsauffassung" S. 50.
Belgischer Brief

Es ist ein bequemes Ruhekissen, wenn man sich damit abfindet, die un¬
politische Art sei nun einmal deutsche Art, oder wenn man von Dekadenz¬
erscheinungen spricht, an denen nun einmal nichts zu ändern sei, da die „Ent¬
wicklung" „gesetzmäßig" dahin führe. Die Entwickluugstheoretiker sind oft
schlechte Historiker. Zum Teil sind, wie wir schon andeuteten, diejenigen, welche
auf die nicht zu ändernde deutsche Art hinweisen und uns sagen, wir müßten
uns, weil sie nun einmal so sei, fortan mit der müden Rolle des Verläumder
abfinden, selbst Miturheber dieser Art. Es gibt Politiker, welche erklären, heute
vor einer bedauerlichen „Krisis" zu stehen und selbst vorher durch die von ihnen
geforderte „Demobilisierung der Geister" mitgeholfen haben, die Krisis herbei¬
zuführend) Z. erwähnt ein Wort Rathenaus (S. 48), wonach den Deutschen die
zivilisatorische Kraft wegen ihres Mangels an entschlossener Haltung fehle.
Wir machen hierzu mit romantischer Ironie, die uns über die Dinge und Worte
erhebt, die Bemerkung, daß der Mangel an entschlossener und geschlossener
Haltung doch wohl nicht ohne Zusammenhang mit dem von Mommsen namhaft
gemachten, bei uns stärker als anderswo vertretenen terrnentum lieeamvositionis
sein dürfte.

So führt uns die geschichtliche Betrachtung von dem Schlagwort der
nicht zu ändernden deutschen unpolitischen Art oder der Dekadenzerscheinungen
überall auf die wahren Ursachen des gegenwärtigen Zustands. So wenig wir
eine dauernde Substanz der Nation leugnen, so bleibt es doch die Aufgabe des
Geschichtsforschers, die Fortbildung der Substanz und die Hindernisse, die
ihrer Fortbildung entgegentreten, aufzuzeigen. In dieser tapferen, unerschrocke¬
nen Art beweist er wiederum, daß die Art des müden Relcitivisteu nicht die
seinige ist.




Belgischer Brief
von einem gelegentlichen Mitarbeiter

le viele Leser der „Grenzboten" gibt es Wohl, die wissen, daß diese
Zeitschrift vor gerade achtzig Jahren in — Brüssel gegründet
worden ist? Freilich ist sie dort nur kurze Zeit erschienen, aber
sie trägt von dort noch heute ihren Namen. Ihr Gründer Kuranda
wollte Deutschtum und Flamentum enger verknüpfen. Lange Jahr-
zehnte hindurch haben die „Grenzboten" dann unter Gustav Frehtags Leitung
hauptsächlich dein kleindeutschen Gedanken und dem jungen Deutschen Reich gedient.
Heute hat ihr Titel wieder einen symbolischen Klang bekommen, und ihr Aufgaben¬
kreis hat sich zu den Anfängen zurückgebogen. Sie wollen Boten sein von den
Grenzen und zu den Grenzen deS ringsum verstümmelten Deutschlands. 8it nomsn
onem! Aber wie haben sich die Zeiten verändert! Ich wünschte, ich säße an
Kurandas Schreibtisch statt an dem, worauf dieser Brief entsteht.



S) Vgl. meine „Parteiamtliche neue Geschichtsauffassung" S. 50.
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[0158] Belgischer Brief Es ist ein bequemes Ruhekissen, wenn man sich damit abfindet, die un¬ politische Art sei nun einmal deutsche Art, oder wenn man von Dekadenz¬ erscheinungen spricht, an denen nun einmal nichts zu ändern sei, da die „Ent¬ wicklung" „gesetzmäßig" dahin führe. Die Entwickluugstheoretiker sind oft schlechte Historiker. Zum Teil sind, wie wir schon andeuteten, diejenigen, welche auf die nicht zu ändernde deutsche Art hinweisen und uns sagen, wir müßten uns, weil sie nun einmal so sei, fortan mit der müden Rolle des Verläumder abfinden, selbst Miturheber dieser Art. Es gibt Politiker, welche erklären, heute vor einer bedauerlichen „Krisis" zu stehen und selbst vorher durch die von ihnen geforderte „Demobilisierung der Geister" mitgeholfen haben, die Krisis herbei¬ zuführend) Z. erwähnt ein Wort Rathenaus (S. 48), wonach den Deutschen die zivilisatorische Kraft wegen ihres Mangels an entschlossener Haltung fehle. Wir machen hierzu mit romantischer Ironie, die uns über die Dinge und Worte erhebt, die Bemerkung, daß der Mangel an entschlossener und geschlossener Haltung doch wohl nicht ohne Zusammenhang mit dem von Mommsen namhaft gemachten, bei uns stärker als anderswo vertretenen terrnentum lieeamvositionis sein dürfte. So führt uns die geschichtliche Betrachtung von dem Schlagwort der nicht zu ändernden deutschen unpolitischen Art oder der Dekadenzerscheinungen überall auf die wahren Ursachen des gegenwärtigen Zustands. So wenig wir eine dauernde Substanz der Nation leugnen, so bleibt es doch die Aufgabe des Geschichtsforschers, die Fortbildung der Substanz und die Hindernisse, die ihrer Fortbildung entgegentreten, aufzuzeigen. In dieser tapferen, unerschrocke¬ nen Art beweist er wiederum, daß die Art des müden Relcitivisteu nicht die seinige ist. Belgischer Brief von einem gelegentlichen Mitarbeiter le viele Leser der „Grenzboten" gibt es Wohl, die wissen, daß diese Zeitschrift vor gerade achtzig Jahren in — Brüssel gegründet worden ist? Freilich ist sie dort nur kurze Zeit erschienen, aber sie trägt von dort noch heute ihren Namen. Ihr Gründer Kuranda wollte Deutschtum und Flamentum enger verknüpfen. Lange Jahr- zehnte hindurch haben die „Grenzboten" dann unter Gustav Frehtags Leitung hauptsächlich dein kleindeutschen Gedanken und dem jungen Deutschen Reich gedient. Heute hat ihr Titel wieder einen symbolischen Klang bekommen, und ihr Aufgaben¬ kreis hat sich zu den Anfängen zurückgebogen. Sie wollen Boten sein von den Grenzen und zu den Grenzen deS ringsum verstümmelten Deutschlands. 8it nomsn onem! Aber wie haben sich die Zeiten verändert! Ich wünschte, ich säße an Kurandas Schreibtisch statt an dem, worauf dieser Brief entsteht. S) Vgl. meine „Parteiamtliche neue Geschichtsauffassung" S. 50.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 80, 1921, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341913_338432/158>, abgerufen am 27.12.2024.