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Die Grenzboten. Jg. 79, 1920, Viertes Vierteljahr.

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Reichsspiegel

rische Begriffe wie Internationalismus, Kommunismus, Pazifismus gern ein¬
mischen, zu mindest abwartend verhalten.

Einstweilen hat der Brahms-Wagner-Brucknersche Nachwuchs noch recht
Erhebliches zu sagen, denn Pfitzners "Palestrina", Straußens "Frau ohne
Schatten", Woyrschs Oratorium "Da Jesus auf Erden ging" sind schließlich
kein Pappenstiel. Sehr bemerkenswerte Kleinmeister wie der Würzburger
H. Zilcher, der Erfurter R. Wetz, der Darmstüdter A. Mendelssohn, der Berliner
P. Grüner, der Schwabe A. Halm und viele andere beweisen täglich durch ihr
Schaffen, daß das alte Tonsystem noch längst nicht so überständig ist wie die
Sechsteltonleute um Busoni herum behaupten, weil ihnen innerhalb der wahr¬
haftig nicht willkürlichen, sondern aus Naturnotwendigkeit erwachsenen Dur¬
mollwelt nichts Wesentliches zu sagen mehr einfällt.

Daß etwas Neues kommen wird und kommen muß, erscheint von der
Warte des Musikhistorikers aus als selbstverständlich, und Oswald Spenglers
Pessimismus dürfte übertrieben oder doch wesentlich verfrüht sein. Daß aber
das Neue erfreulicher, gesünder, deutscher ausschauen möge als die bisherigen
Klavierstücke eines Schönberg und Wellesz, steht innig zu hoffen. Eines sollte
freilich der Zukunftsmusiker von dem heutigen bildenden Künstler lernen: daß
es keine Schande ist, höchstes Kunstwollen auch auf die Anfertigung eines Ton¬
kruges, eines Schrankes, eines Kerzenhalters zu verwenden. Bekamen wir
wieder ein musikalisches Kunstgewerbe, wie es die alte Zeit als tausenderlei Ge¬
brauchsmusik von Rathaustürmen und Glockenstuben herab, bei Taufe, Hoch¬
zeit, Festmahl und Begräbnis, durch Stadtpfeifer, Militärtrompeter, Kurrende,
kirchliche Abendmusik und Gassenständchen hat ertönen lassen, wo wäre es besser
um unsere Gesamtkultur bestellt, und der schrecklich klaffende Spalt zwischen
Operettenschlager als "Volkskunst" und Snobexpressionismus als "Gebildeten-
kunst" würde sich allmählich wieder schließen. Ohne ein allgemeines, kraftvolles
Wollen in dieser Richtung wird der deutschen Tonkunst keine große Zukunft
Mehr blühen.




Reichsspiegel

, Die Zersetzung der Sozialdemokratie. Weitblickende Führer der Sozial-
oemokratie wie Paul Lensch erkannten schon während des Krieges, daß der macht¬
politische Sieg der sozialistischen Gedankenwelt mit einer Krisis der organisatorischen
Formen verknüpft sein müßte, in denen sich der Sozialismus parteipolitisch aus¬
prägte. Wir erlebten es, daß die sozialdemokratische Partei geschlossen in den
Krieg marschierte, daß sie sich auf der Höhe der militärischen Entscheidungen zum
ersten Male spaltete und daß sich seither immer neue parteipolitische Absplitterungen
vollziehen. Aus der Spartakusgruppe der Unabhängigen Sozialdemokratie wurde
vie Kommunistische Partei Deutschlands, daneben trat die Kommunistische Arbeiter¬
partei Deutschlands, der Syndikalismus trat ebenfalls als selbständige Form
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rische Begriffe wie Internationalismus, Kommunismus, Pazifismus gern ein¬
mischen, zu mindest abwartend verhalten.

Einstweilen hat der Brahms-Wagner-Brucknersche Nachwuchs noch recht
Erhebliches zu sagen, denn Pfitzners „Palestrina", Straußens „Frau ohne
Schatten", Woyrschs Oratorium „Da Jesus auf Erden ging" sind schließlich
kein Pappenstiel. Sehr bemerkenswerte Kleinmeister wie der Würzburger
H. Zilcher, der Erfurter R. Wetz, der Darmstüdter A. Mendelssohn, der Berliner
P. Grüner, der Schwabe A. Halm und viele andere beweisen täglich durch ihr
Schaffen, daß das alte Tonsystem noch längst nicht so überständig ist wie die
Sechsteltonleute um Busoni herum behaupten, weil ihnen innerhalb der wahr¬
haftig nicht willkürlichen, sondern aus Naturnotwendigkeit erwachsenen Dur¬
mollwelt nichts Wesentliches zu sagen mehr einfällt.

Daß etwas Neues kommen wird und kommen muß, erscheint von der
Warte des Musikhistorikers aus als selbstverständlich, und Oswald Spenglers
Pessimismus dürfte übertrieben oder doch wesentlich verfrüht sein. Daß aber
das Neue erfreulicher, gesünder, deutscher ausschauen möge als die bisherigen
Klavierstücke eines Schönberg und Wellesz, steht innig zu hoffen. Eines sollte
freilich der Zukunftsmusiker von dem heutigen bildenden Künstler lernen: daß
es keine Schande ist, höchstes Kunstwollen auch auf die Anfertigung eines Ton¬
kruges, eines Schrankes, eines Kerzenhalters zu verwenden. Bekamen wir
wieder ein musikalisches Kunstgewerbe, wie es die alte Zeit als tausenderlei Ge¬
brauchsmusik von Rathaustürmen und Glockenstuben herab, bei Taufe, Hoch¬
zeit, Festmahl und Begräbnis, durch Stadtpfeifer, Militärtrompeter, Kurrende,
kirchliche Abendmusik und Gassenständchen hat ertönen lassen, wo wäre es besser
um unsere Gesamtkultur bestellt, und der schrecklich klaffende Spalt zwischen
Operettenschlager als „Volkskunst" und Snobexpressionismus als „Gebildeten-
kunst" würde sich allmählich wieder schließen. Ohne ein allgemeines, kraftvolles
Wollen in dieser Richtung wird der deutschen Tonkunst keine große Zukunft
Mehr blühen.




Reichsspiegel

, Die Zersetzung der Sozialdemokratie. Weitblickende Führer der Sozial-
oemokratie wie Paul Lensch erkannten schon während des Krieges, daß der macht¬
politische Sieg der sozialistischen Gedankenwelt mit einer Krisis der organisatorischen
Formen verknüpft sein müßte, in denen sich der Sozialismus parteipolitisch aus¬
prägte. Wir erlebten es, daß die sozialdemokratische Partei geschlossen in den
Krieg marschierte, daß sie sich auf der Höhe der militärischen Entscheidungen zum
ersten Male spaltete und daß sich seither immer neue parteipolitische Absplitterungen
vollziehen. Aus der Spartakusgruppe der Unabhängigen Sozialdemokratie wurde
vie Kommunistische Partei Deutschlands, daneben trat die Kommunistische Arbeiter¬
partei Deutschlands, der Syndikalismus trat ebenfalls als selbständige Form
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 79, 1920, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341911_338022/91>, abgerufen am 22.07.2024.