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Die Grenzboten. Jg. 79, 1920, Drittes Vierteljahr.

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Bücherschau

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Rettet Europa! Mit dem Begriff "Bol¬
schewismus", der zum Schlagwort im Partei¬
kampf herabgesunken ist, verbindet jeder einen
anderen Sinn. Während die mehr wissen¬
schaftliche Tätigkeit der deutschen Gesellschaft
zum Studium Osteuropas Wohl nur das
Interesse der dieser Vereinigung nahestehenden
Kreise fand, und während bei anderen Dar¬
stellungen mehr oder weniger die Parteibrille
den klaren Blick trübte, liegt jetzt eine Schrift
vor, welche uns das wahre Gesicht des Bol¬
schewismus in seiner ganzen grauenhaften
Furchtbarkeit vor Augen führt. Diese Bro¬
schüre wird verlegt von der "Einheitsfront",
dem Organ des Volsbundes gegen den Bol¬
schewismus. Der Verfasser, Hauptmann
Franz Cleinow, wendet sich entgegen dem für
unser innerpolitisches Leben so verhängnis¬
vollen Grundsatz: "I^xtra trsvtionem nulla
sxss salutis" mit dem Titel: "Rettet Europa!
Erlebnisse im sterbenden Rußland" an "Bürger
und Arbeiter aller Parteien".

Erst zaghaft bricht sich die Einsicht in den
bürgerlichen Parteien Bahn, daß der Krieg,
welcher das innerste Leben aller Mitkämpfer
in einer bisher ungeahnten Weise aufgewühlt
hat, eine Arbeiterschaft heranerzogen hat,
welche unvergleichlich mehr als vor dem
Kriege über die Probleme des staatlichen
Lebens nachdenkt. Nur wenn das Bürgertum
mit dieser Arbeiterschaft zusammen an der
Lösung der gewaltigen Aufgaben mitarbeitet,
nur dann kann die innere Geschlossenheit
wieder erreicht werden, welche allein Deutsch¬
land vor dem Untergange bewahren kann.
Reißen wir die Binde von den Augen: Wir
wandeln am Abgrund! Alles Debattieren, ob
die Form des russischen Bolschewismus schon
in Deutschlands Gauen sich auswirkt oder
nicht, es ist gegenstandslos: der Bolschewis¬
mus im russischen Urzustande hat sein mord-
beladenes Haupt bereits im Nuhrgcbiet und
im Erzgebirge erhoben, getreu dem russischen
Vorbild. Wie dieses aussieht, das zeigt uns
die Cleinowsche Schrift.

Der erste Teil der Schrift, welcher uns
die persönlichen Erlebnisse des Verfasser"
übermittelt, ist um so wichtiger, als die
Knebelung der bolschewistischen Presse nur

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solche Nachrichten in das Ausland passieren
läßt, welche im Sinne der Propaganda
wirken, die als erste Großmacht des heutigen
Nußland für die Idee der Weltrevolution im
bolschewistischen Sinne die gleiche Rolle spielt,
wie Northcüffe für den Entente-Imperialis¬
mus. Wer selbst jahrelang im fremden
Lande das schwere Los eines Gefangenen er¬
trug, kann eS in tiefster Seele nachfühlen,
was hier in so selbstverständlicher Form ohne
jede Sentimentalität berichtet wird. Es ist
schwer wiederzugeben, man muß es lesen, wie
Cleinow als wehrloses Opfer in den mörde¬
rischen Händen der Tschcka-Henker nach grä߬
licher Abschlachtung von Frauen und Kindern
vor seinen eigenen Augen jenen letzten Gang
antrat, von dem ihn nur ein Zufall rettete.
sarkastisch bemerkt der Verfasser zu dieser
radikalen Mordpolitik: "Sie wollen zunächst
Ruhe um jeden Preis, und das haben sie
erreicht." (S. 12.) -

Der wirtschaftliche Teil bringt den Kern-
Punkt in der Beurteilung der gesamten russisch¬
revolutionären Erscheinung. 80 Prozent der
Bevölkerung sind Bauern, welche sich durch
Eigenproduktion am Leben erhalten und ihre
sonstigen Gebrauchsgegenstände auf dem Wege
des Tauschverkehrs mit ihren Produkten er¬
werben. Lediglich auf diese Weise ist das
Durchhalten der bolschewistischen Herrschaft
bis heute zu verstehen. Der Todeskampf der
restlichen 20 Prozent städtischer Einwohner
entzieht sich der allgemeinen Beurteilung.
Was aus dieser Tatsache jene Richtung zu
lernen hat, welche auf den von Nahrungs¬
mitteln entblößten deutschen Industriestaat
das russische Vorbild übertragen will, in
kritikloser Photographie des russischen Phä¬
nomens wie schon 1906 bei der ersten russi¬
schen Revolution, dürfte sonnenklar erscheinen.

Was Cleinow serner über Bewährung
oder vielmehr völlige Zerstörung der russischen
Industrie durch die neuen "erleuchteten" Me¬
thoden zu sagen hat, ist wertvolles Tatsachen¬
material, über das wohl auch unser Neichs-
wirtschaftsrat bei der Wesensgleichheit der
Probleme nicht ohne weiteres zur Tages¬
ordnung übergehen darf. Dem hier erst an
dritter Stelle behandelten Transportwesen

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Rettet Europa! Mit dem Begriff „Bol¬
schewismus", der zum Schlagwort im Partei¬
kampf herabgesunken ist, verbindet jeder einen
anderen Sinn. Während die mehr wissen¬
schaftliche Tätigkeit der deutschen Gesellschaft
zum Studium Osteuropas Wohl nur das
Interesse der dieser Vereinigung nahestehenden
Kreise fand, und während bei anderen Dar¬
stellungen mehr oder weniger die Parteibrille
den klaren Blick trübte, liegt jetzt eine Schrift
vor, welche uns das wahre Gesicht des Bol¬
schewismus in seiner ganzen grauenhaften
Furchtbarkeit vor Augen führt. Diese Bro¬
schüre wird verlegt von der „Einheitsfront",
dem Organ des Volsbundes gegen den Bol¬
schewismus. Der Verfasser, Hauptmann
Franz Cleinow, wendet sich entgegen dem für
unser innerpolitisches Leben so verhängnis¬
vollen Grundsatz: „I^xtra trsvtionem nulla
sxss salutis" mit dem Titel: „Rettet Europa!
Erlebnisse im sterbenden Rußland" an „Bürger
und Arbeiter aller Parteien".

Erst zaghaft bricht sich die Einsicht in den
bürgerlichen Parteien Bahn, daß der Krieg,
welcher das innerste Leben aller Mitkämpfer
in einer bisher ungeahnten Weise aufgewühlt
hat, eine Arbeiterschaft heranerzogen hat,
welche unvergleichlich mehr als vor dem
Kriege über die Probleme des staatlichen
Lebens nachdenkt. Nur wenn das Bürgertum
mit dieser Arbeiterschaft zusammen an der
Lösung der gewaltigen Aufgaben mitarbeitet,
nur dann kann die innere Geschlossenheit
wieder erreicht werden, welche allein Deutsch¬
land vor dem Untergange bewahren kann.
Reißen wir die Binde von den Augen: Wir
wandeln am Abgrund! Alles Debattieren, ob
die Form des russischen Bolschewismus schon
in Deutschlands Gauen sich auswirkt oder
nicht, es ist gegenstandslos: der Bolschewis¬
mus im russischen Urzustande hat sein mord-
beladenes Haupt bereits im Nuhrgcbiet und
im Erzgebirge erhoben, getreu dem russischen
Vorbild. Wie dieses aussieht, das zeigt uns
die Cleinowsche Schrift.

Der erste Teil der Schrift, welcher uns
die persönlichen Erlebnisse des Verfasser«
übermittelt, ist um so wichtiger, als die
Knebelung der bolschewistischen Presse nur

[Spaltenumbruch]

solche Nachrichten in das Ausland passieren
läßt, welche im Sinne der Propaganda
wirken, die als erste Großmacht des heutigen
Nußland für die Idee der Weltrevolution im
bolschewistischen Sinne die gleiche Rolle spielt,
wie Northcüffe für den Entente-Imperialis¬
mus. Wer selbst jahrelang im fremden
Lande das schwere Los eines Gefangenen er¬
trug, kann eS in tiefster Seele nachfühlen,
was hier in so selbstverständlicher Form ohne
jede Sentimentalität berichtet wird. Es ist
schwer wiederzugeben, man muß es lesen, wie
Cleinow als wehrloses Opfer in den mörde¬
rischen Händen der Tschcka-Henker nach grä߬
licher Abschlachtung von Frauen und Kindern
vor seinen eigenen Augen jenen letzten Gang
antrat, von dem ihn nur ein Zufall rettete.
sarkastisch bemerkt der Verfasser zu dieser
radikalen Mordpolitik: „Sie wollen zunächst
Ruhe um jeden Preis, und das haben sie
erreicht." (S. 12.) -

Der wirtschaftliche Teil bringt den Kern-
Punkt in der Beurteilung der gesamten russisch¬
revolutionären Erscheinung. 80 Prozent der
Bevölkerung sind Bauern, welche sich durch
Eigenproduktion am Leben erhalten und ihre
sonstigen Gebrauchsgegenstände auf dem Wege
des Tauschverkehrs mit ihren Produkten er¬
werben. Lediglich auf diese Weise ist das
Durchhalten der bolschewistischen Herrschaft
bis heute zu verstehen. Der Todeskampf der
restlichen 20 Prozent städtischer Einwohner
entzieht sich der allgemeinen Beurteilung.
Was aus dieser Tatsache jene Richtung zu
lernen hat, welche auf den von Nahrungs¬
mitteln entblößten deutschen Industriestaat
das russische Vorbild übertragen will, in
kritikloser Photographie des russischen Phä¬
nomens wie schon 1906 bei der ersten russi¬
schen Revolution, dürfte sonnenklar erscheinen.

Was Cleinow serner über Bewährung
oder vielmehr völlige Zerstörung der russischen
Industrie durch die neuen „erleuchteten" Me¬
thoden zu sagen hat, ist wertvolles Tatsachen¬
material, über das wohl auch unser Neichs-
wirtschaftsrat bei der Wesensgleichheit der
Probleme nicht ohne weiteres zur Tages¬
ordnung übergehen darf. Dem hier erst an
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[0039] Biicherschan Bücherschau Rettet Europa! Mit dem Begriff „Bol¬ schewismus", der zum Schlagwort im Partei¬ kampf herabgesunken ist, verbindet jeder einen anderen Sinn. Während die mehr wissen¬ schaftliche Tätigkeit der deutschen Gesellschaft zum Studium Osteuropas Wohl nur das Interesse der dieser Vereinigung nahestehenden Kreise fand, und während bei anderen Dar¬ stellungen mehr oder weniger die Parteibrille den klaren Blick trübte, liegt jetzt eine Schrift vor, welche uns das wahre Gesicht des Bol¬ schewismus in seiner ganzen grauenhaften Furchtbarkeit vor Augen führt. Diese Bro¬ schüre wird verlegt von der „Einheitsfront", dem Organ des Volsbundes gegen den Bol¬ schewismus. Der Verfasser, Hauptmann Franz Cleinow, wendet sich entgegen dem für unser innerpolitisches Leben so verhängnis¬ vollen Grundsatz: „I^xtra trsvtionem nulla sxss salutis" mit dem Titel: „Rettet Europa! Erlebnisse im sterbenden Rußland" an „Bürger und Arbeiter aller Parteien". Erst zaghaft bricht sich die Einsicht in den bürgerlichen Parteien Bahn, daß der Krieg, welcher das innerste Leben aller Mitkämpfer in einer bisher ungeahnten Weise aufgewühlt hat, eine Arbeiterschaft heranerzogen hat, welche unvergleichlich mehr als vor dem Kriege über die Probleme des staatlichen Lebens nachdenkt. Nur wenn das Bürgertum mit dieser Arbeiterschaft zusammen an der Lösung der gewaltigen Aufgaben mitarbeitet, nur dann kann die innere Geschlossenheit wieder erreicht werden, welche allein Deutsch¬ land vor dem Untergange bewahren kann. Reißen wir die Binde von den Augen: Wir wandeln am Abgrund! Alles Debattieren, ob die Form des russischen Bolschewismus schon in Deutschlands Gauen sich auswirkt oder nicht, es ist gegenstandslos: der Bolschewis¬ mus im russischen Urzustande hat sein mord- beladenes Haupt bereits im Nuhrgcbiet und im Erzgebirge erhoben, getreu dem russischen Vorbild. Wie dieses aussieht, das zeigt uns die Cleinowsche Schrift. Der erste Teil der Schrift, welcher uns die persönlichen Erlebnisse des Verfasser« übermittelt, ist um so wichtiger, als die Knebelung der bolschewistischen Presse nur solche Nachrichten in das Ausland passieren läßt, welche im Sinne der Propaganda wirken, die als erste Großmacht des heutigen Nußland für die Idee der Weltrevolution im bolschewistischen Sinne die gleiche Rolle spielt, wie Northcüffe für den Entente-Imperialis¬ mus. Wer selbst jahrelang im fremden Lande das schwere Los eines Gefangenen er¬ trug, kann eS in tiefster Seele nachfühlen, was hier in so selbstverständlicher Form ohne jede Sentimentalität berichtet wird. Es ist schwer wiederzugeben, man muß es lesen, wie Cleinow als wehrloses Opfer in den mörde¬ rischen Händen der Tschcka-Henker nach grä߬ licher Abschlachtung von Frauen und Kindern vor seinen eigenen Augen jenen letzten Gang antrat, von dem ihn nur ein Zufall rettete. sarkastisch bemerkt der Verfasser zu dieser radikalen Mordpolitik: „Sie wollen zunächst Ruhe um jeden Preis, und das haben sie erreicht." (S. 12.) - Der wirtschaftliche Teil bringt den Kern- Punkt in der Beurteilung der gesamten russisch¬ revolutionären Erscheinung. 80 Prozent der Bevölkerung sind Bauern, welche sich durch Eigenproduktion am Leben erhalten und ihre sonstigen Gebrauchsgegenstände auf dem Wege des Tauschverkehrs mit ihren Produkten er¬ werben. Lediglich auf diese Weise ist das Durchhalten der bolschewistischen Herrschaft bis heute zu verstehen. Der Todeskampf der restlichen 20 Prozent städtischer Einwohner entzieht sich der allgemeinen Beurteilung. Was aus dieser Tatsache jene Richtung zu lernen hat, welche auf den von Nahrungs¬ mitteln entblößten deutschen Industriestaat das russische Vorbild übertragen will, in kritikloser Photographie des russischen Phä¬ nomens wie schon 1906 bei der ersten russi¬ schen Revolution, dürfte sonnenklar erscheinen. Was Cleinow serner über Bewährung oder vielmehr völlige Zerstörung der russischen Industrie durch die neuen „erleuchteten" Me¬ thoden zu sagen hat, ist wertvolles Tatsachen¬ material, über das wohl auch unser Neichs- wirtschaftsrat bei der Wesensgleichheit der Probleme nicht ohne weiteres zur Tages¬ ordnung übergehen darf. Dem hier erst an dritter Stelle behandelten Transportwesen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 79, 1920, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341911_337640/39>, abgerufen am 29.06.2024.