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Die Grenzboten. Jg. 79, 1920, Drittes Vierteljahr.

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Das Problem des praktischen Bolschewismus

Fuhrwerk in seine Rechte, statt des Fuhrwerks die Fußwanderung. Statt
der Elektrizität und des Gases erscheint wieder die Unschlittkerze, statt der Kerze
der Span, statt des Pfluges und der eisernen Egge der alte Hakenpflug
und die Holzegge; statt der Mähmaschine die Sense, statt der Sense die Sichel,
statt der Dreschmaschine der Flegel und der Ochsentritt, statt des zehnten Korns
das dritte und vierte Korn. An die Stelle der Universität tritt die Volkshoch¬
schule; den Ingenieur verdrängt der Werkmeister, den Arzt der Feldscher, die
Kunst wird zum Dilettantismus. Es ist ein Abbau der Kultur im großen Stile,
verursacht durch die Vernichtung der Vorräte und der Produktionsmittel. Mit
den längst veralteten Arbeitsmethoden, zu denen Rußland gezwungenermaßen
jetzt zurückkehrt, kann man aber nicht mehr so viel produzieren, wieviel die jetzige
Bevölkerungszahl Rußlands verbraucht. Das führt zu einer Entvölkerung
Rußlands.

Zunächst sind es die Kulturzentren, die Städte, die ihre Einwohner ver¬
lieren. Die Städter fliehen in die Landwirtschaft, in die dörfliche Haus¬
industrie, in den Hausiererhandel. Die Kinder, die Alten und Schwachen
sterben natürlich. Sind aber erst die Städte entvölkert, wie soll dann die
sterbende Industrie ihre Produktion steigern?

Das Räterußland hat keine genügenden Produktionsmittel mehr; des¬
halb kann es das Sinken der Produktion nicht mehr aufhalten, falls kein Ein¬
griff von außen kommt. Bleibt Rußland sich selbst überlassen, so wird seine
Barbarisierung sich mit Naturnotwendigkeit bis zu demjenigen Zustande
entwickeln, wo die Produktionsich mit denjenigen Produktionsmitteln begnügt,
welche die Natur bietet und die der Arbeiter selbst sich herstellen kann. Das wird
die primitive Landwirtschaft und das primitive Handwerk sein. Die Landwirt¬
schaft hat in Rußland etwa 86 Prozent der Bevölkerung genährt. Nun, so
müssen die übrigen 15 Prozent eben zugrunde gehen.

Natürlich könnte es zu dieser äußersten Lage nur dann kommen, falls ganz
Europa bolschewistisch wird. Bleibt dagegen in Westeuropa die bürgerliche
Ordnung bestehen, so kann Rußland von ihr nicht hermetisch abgeschlossen
werden. Ihr kulturförderndes Eingreifen wird dann die Entkultivierung Ru߬
lands schon viel früher zum Stillstand bringen.


V. ,

Der Eingriff von außen in die russischen Verhältnisse -- wie ist er denkbar?

Zunächst sind wir Zeugen der kriegerischen Intervention gewesen. Man
hat sie aus allen Himmelsrichtungen und mit den verschiedensten Mitteln versucht;
sie ist aber restlos mißglückt. Und das konnte auch nicht gut anders sein, falls
unsere Wertung des praktischen Bolschewismus als einer Folgeerscheinung
der Unterproduktion zutrifft. Die kriegerische Intervention mußte ihrem Wesen
entsprechend die Unterproduktion steigern und mithin auch die Zahl derjenigen,
die infolgedessen auf den Verbrauch der Produktionsmittel, also auf den
praktischen Bolschewismus, als ihre letzte Rettung, angewiesen waren.

Daß in Rußland selbst der Bolschewismus infolge der kriegerischen Inter¬
vention mächtiger geworden ist, wird jetzt allgemein anerkannt. Doch auch die
Raubstaaten haben es jetzt bitter zu büßen, daß sie den Lockungen und Ein-


Das Problem des praktischen Bolschewismus

Fuhrwerk in seine Rechte, statt des Fuhrwerks die Fußwanderung. Statt
der Elektrizität und des Gases erscheint wieder die Unschlittkerze, statt der Kerze
der Span, statt des Pfluges und der eisernen Egge der alte Hakenpflug
und die Holzegge; statt der Mähmaschine die Sense, statt der Sense die Sichel,
statt der Dreschmaschine der Flegel und der Ochsentritt, statt des zehnten Korns
das dritte und vierte Korn. An die Stelle der Universität tritt die Volkshoch¬
schule; den Ingenieur verdrängt der Werkmeister, den Arzt der Feldscher, die
Kunst wird zum Dilettantismus. Es ist ein Abbau der Kultur im großen Stile,
verursacht durch die Vernichtung der Vorräte und der Produktionsmittel. Mit
den längst veralteten Arbeitsmethoden, zu denen Rußland gezwungenermaßen
jetzt zurückkehrt, kann man aber nicht mehr so viel produzieren, wieviel die jetzige
Bevölkerungszahl Rußlands verbraucht. Das führt zu einer Entvölkerung
Rußlands.

Zunächst sind es die Kulturzentren, die Städte, die ihre Einwohner ver¬
lieren. Die Städter fliehen in die Landwirtschaft, in die dörfliche Haus¬
industrie, in den Hausiererhandel. Die Kinder, die Alten und Schwachen
sterben natürlich. Sind aber erst die Städte entvölkert, wie soll dann die
sterbende Industrie ihre Produktion steigern?

Das Räterußland hat keine genügenden Produktionsmittel mehr; des¬
halb kann es das Sinken der Produktion nicht mehr aufhalten, falls kein Ein¬
griff von außen kommt. Bleibt Rußland sich selbst überlassen, so wird seine
Barbarisierung sich mit Naturnotwendigkeit bis zu demjenigen Zustande
entwickeln, wo die Produktionsich mit denjenigen Produktionsmitteln begnügt,
welche die Natur bietet und die der Arbeiter selbst sich herstellen kann. Das wird
die primitive Landwirtschaft und das primitive Handwerk sein. Die Landwirt¬
schaft hat in Rußland etwa 86 Prozent der Bevölkerung genährt. Nun, so
müssen die übrigen 15 Prozent eben zugrunde gehen.

Natürlich könnte es zu dieser äußersten Lage nur dann kommen, falls ganz
Europa bolschewistisch wird. Bleibt dagegen in Westeuropa die bürgerliche
Ordnung bestehen, so kann Rußland von ihr nicht hermetisch abgeschlossen
werden. Ihr kulturförderndes Eingreifen wird dann die Entkultivierung Ru߬
lands schon viel früher zum Stillstand bringen.


V. ,

Der Eingriff von außen in die russischen Verhältnisse — wie ist er denkbar?

Zunächst sind wir Zeugen der kriegerischen Intervention gewesen. Man
hat sie aus allen Himmelsrichtungen und mit den verschiedensten Mitteln versucht;
sie ist aber restlos mißglückt. Und das konnte auch nicht gut anders sein, falls
unsere Wertung des praktischen Bolschewismus als einer Folgeerscheinung
der Unterproduktion zutrifft. Die kriegerische Intervention mußte ihrem Wesen
entsprechend die Unterproduktion steigern und mithin auch die Zahl derjenigen,
die infolgedessen auf den Verbrauch der Produktionsmittel, also auf den
praktischen Bolschewismus, als ihre letzte Rettung, angewiesen waren.

Daß in Rußland selbst der Bolschewismus infolge der kriegerischen Inter¬
vention mächtiger geworden ist, wird jetzt allgemein anerkannt. Doch auch die
Raubstaaten haben es jetzt bitter zu büßen, daß sie den Lockungen und Ein-


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[0304] Das Problem des praktischen Bolschewismus Fuhrwerk in seine Rechte, statt des Fuhrwerks die Fußwanderung. Statt der Elektrizität und des Gases erscheint wieder die Unschlittkerze, statt der Kerze der Span, statt des Pfluges und der eisernen Egge der alte Hakenpflug und die Holzegge; statt der Mähmaschine die Sense, statt der Sense die Sichel, statt der Dreschmaschine der Flegel und der Ochsentritt, statt des zehnten Korns das dritte und vierte Korn. An die Stelle der Universität tritt die Volkshoch¬ schule; den Ingenieur verdrängt der Werkmeister, den Arzt der Feldscher, die Kunst wird zum Dilettantismus. Es ist ein Abbau der Kultur im großen Stile, verursacht durch die Vernichtung der Vorräte und der Produktionsmittel. Mit den längst veralteten Arbeitsmethoden, zu denen Rußland gezwungenermaßen jetzt zurückkehrt, kann man aber nicht mehr so viel produzieren, wieviel die jetzige Bevölkerungszahl Rußlands verbraucht. Das führt zu einer Entvölkerung Rußlands. Zunächst sind es die Kulturzentren, die Städte, die ihre Einwohner ver¬ lieren. Die Städter fliehen in die Landwirtschaft, in die dörfliche Haus¬ industrie, in den Hausiererhandel. Die Kinder, die Alten und Schwachen sterben natürlich. Sind aber erst die Städte entvölkert, wie soll dann die sterbende Industrie ihre Produktion steigern? Das Räterußland hat keine genügenden Produktionsmittel mehr; des¬ halb kann es das Sinken der Produktion nicht mehr aufhalten, falls kein Ein¬ griff von außen kommt. Bleibt Rußland sich selbst überlassen, so wird seine Barbarisierung sich mit Naturnotwendigkeit bis zu demjenigen Zustande entwickeln, wo die Produktionsich mit denjenigen Produktionsmitteln begnügt, welche die Natur bietet und die der Arbeiter selbst sich herstellen kann. Das wird die primitive Landwirtschaft und das primitive Handwerk sein. Die Landwirt¬ schaft hat in Rußland etwa 86 Prozent der Bevölkerung genährt. Nun, so müssen die übrigen 15 Prozent eben zugrunde gehen. Natürlich könnte es zu dieser äußersten Lage nur dann kommen, falls ganz Europa bolschewistisch wird. Bleibt dagegen in Westeuropa die bürgerliche Ordnung bestehen, so kann Rußland von ihr nicht hermetisch abgeschlossen werden. Ihr kulturförderndes Eingreifen wird dann die Entkultivierung Ru߬ lands schon viel früher zum Stillstand bringen. V. , Der Eingriff von außen in die russischen Verhältnisse — wie ist er denkbar? Zunächst sind wir Zeugen der kriegerischen Intervention gewesen. Man hat sie aus allen Himmelsrichtungen und mit den verschiedensten Mitteln versucht; sie ist aber restlos mißglückt. Und das konnte auch nicht gut anders sein, falls unsere Wertung des praktischen Bolschewismus als einer Folgeerscheinung der Unterproduktion zutrifft. Die kriegerische Intervention mußte ihrem Wesen entsprechend die Unterproduktion steigern und mithin auch die Zahl derjenigen, die infolgedessen auf den Verbrauch der Produktionsmittel, also auf den praktischen Bolschewismus, als ihre letzte Rettung, angewiesen waren. Daß in Rußland selbst der Bolschewismus infolge der kriegerischen Inter¬ vention mächtiger geworden ist, wird jetzt allgemein anerkannt. Doch auch die Raubstaaten haben es jetzt bitter zu büßen, daß sie den Lockungen und Ein-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 79, 1920, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341911_337640/304>, abgerufen am 22.07.2024.