Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 79, 1920, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Der berufsständische Gedanke und die Landwirtschaft

gefühl, und dann werden die englischen und französischen Arbeiter, die sehr gelassen
und ungerührt die Vergewaltigung der deutschen Arbeiter durch die Urteilssprüche
von Versailles und Spa hingenommen haben, zum Widerstand aufgerüttelt werden,
wenn es sich um Sowjetrußland handelt. Politisch könnte also die Vergewaltigung
unserer Neutralität uns nützen; ob wir es benutzen werden, ist freilich eine andere
Sache. Ein anderes freilich ist, ob die Entente nicht Polen militärisch seinem
Schicksal überläßt und sich auf die Mittel der Blockade beschränken muß, weil sie
nicht mehr genügend Soldaten für diesen Krieg, der kein Spaziergang sein wird,
finden werden. In diesem Fall würde sie unsere Neutralität militärisch in Ruhe
lassen, uns dagegen zur Teilnahme an der Blockade zwingen oder in die Blockade
einbeziehen wollen. Dann laufen wir Gefahr, daß die Rote Armee, um Nahrung
zu finden, aus Abenteuerlust oder Ruhmsucht, und daß die Bolschewisten, um den
Brand der Weltrevolution weiterzutragen, in Deutschland einfallen, und daß unsere
Linksradikalen und unsere Nationalbolschewisten die Stunde des Losschlagens ge¬
kommen glauben. Es wäre dies die vierte und die scheußlichste Möglichkeit, die aus,
der jetzigen Lage sich ergibt, in der wir überhaupt keine politischen Ziele verfolgen
können, sondern den Brand im eigenen Hause bekämpfen und löschen müssen.


Priscus


Der berufsständische Gedanke und die Landwirtschaft
P. von Broecke von

><>"^> "Z^v.ber den berufsständischen Gedanken herrschen vielfach unklare Auf¬
fassungen. In ihnen mischen sich unrichtige Vorstellungen vom Mittel--
älterlichen Zunftwesen mit ebenso mißverstandenen Anschauungen
vom Wesen der russischen Sowjets, die sich beide auf das heutige
Deutschland nicht übertragen lassen. Das Zunftwesen, in der mittel¬
alterlichen Stadtwirtschaft sehr wohl am Platze, mußte schon verschwinden, als die
Stadtwirtschaft in die Staatswirtschaft überging. Seine Wiederauferstehung im
Zeitalter der Weltwirtschaft, die einen sehr viel weiteren Gesichtskreis aller leitenden
Stellen erfordert, ist potiers undenkbar. Daß andererseits das Sowjetexperiment
für uns nicht nachahmenswert ist, liegt bei dem völligen Verfall der russischen Wirt¬
schaft klar zutage.

Zu welchen Formen sich der berufsständische Gedanke bei uns weiterentwickeln
wird, ist zur Zeit noch nicht abzusehen. Fest steht bisher nur, daß er zusehends an
Boden gewinnt, wenn er auch absichtlich von vielen mißverstanden und mißdeutet
wird, deren Vorteil mit der parlamentarischen Staatsform unlöslich verknüpft ist.
In seiner jetzigen Entstehung und Gestalt ist der berufsständische Gedanke nichts
weiter als eine Reaktion gegenüber dem Parlamentarismus. Sicherlich wird er
diesen nur allmählich ablösen können, denn eine Jahrhunderte alte Entwicklung
wird nicht plötzlich abgebrochen.

Wer sich in das Wesen des Parlamentarismus zu vertiefen sucht, wird zu der
Überzeugung gelangen, daß seine Hauptaufgabe, die er auf dem europäischen Festland
durch den Anstoß der französischen Revolution erhielt, gelöst ist: die Herbeiführung


11*
Der berufsständische Gedanke und die Landwirtschaft

gefühl, und dann werden die englischen und französischen Arbeiter, die sehr gelassen
und ungerührt die Vergewaltigung der deutschen Arbeiter durch die Urteilssprüche
von Versailles und Spa hingenommen haben, zum Widerstand aufgerüttelt werden,
wenn es sich um Sowjetrußland handelt. Politisch könnte also die Vergewaltigung
unserer Neutralität uns nützen; ob wir es benutzen werden, ist freilich eine andere
Sache. Ein anderes freilich ist, ob die Entente nicht Polen militärisch seinem
Schicksal überläßt und sich auf die Mittel der Blockade beschränken muß, weil sie
nicht mehr genügend Soldaten für diesen Krieg, der kein Spaziergang sein wird,
finden werden. In diesem Fall würde sie unsere Neutralität militärisch in Ruhe
lassen, uns dagegen zur Teilnahme an der Blockade zwingen oder in die Blockade
einbeziehen wollen. Dann laufen wir Gefahr, daß die Rote Armee, um Nahrung
zu finden, aus Abenteuerlust oder Ruhmsucht, und daß die Bolschewisten, um den
Brand der Weltrevolution weiterzutragen, in Deutschland einfallen, und daß unsere
Linksradikalen und unsere Nationalbolschewisten die Stunde des Losschlagens ge¬
kommen glauben. Es wäre dies die vierte und die scheußlichste Möglichkeit, die aus,
der jetzigen Lage sich ergibt, in der wir überhaupt keine politischen Ziele verfolgen
können, sondern den Brand im eigenen Hause bekämpfen und löschen müssen.


Priscus


Der berufsständische Gedanke und die Landwirtschaft
P. von Broecke von

><>«^> »Z^v.ber den berufsständischen Gedanken herrschen vielfach unklare Auf¬
fassungen. In ihnen mischen sich unrichtige Vorstellungen vom Mittel--
älterlichen Zunftwesen mit ebenso mißverstandenen Anschauungen
vom Wesen der russischen Sowjets, die sich beide auf das heutige
Deutschland nicht übertragen lassen. Das Zunftwesen, in der mittel¬
alterlichen Stadtwirtschaft sehr wohl am Platze, mußte schon verschwinden, als die
Stadtwirtschaft in die Staatswirtschaft überging. Seine Wiederauferstehung im
Zeitalter der Weltwirtschaft, die einen sehr viel weiteren Gesichtskreis aller leitenden
Stellen erfordert, ist potiers undenkbar. Daß andererseits das Sowjetexperiment
für uns nicht nachahmenswert ist, liegt bei dem völligen Verfall der russischen Wirt¬
schaft klar zutage.

Zu welchen Formen sich der berufsständische Gedanke bei uns weiterentwickeln
wird, ist zur Zeit noch nicht abzusehen. Fest steht bisher nur, daß er zusehends an
Boden gewinnt, wenn er auch absichtlich von vielen mißverstanden und mißdeutet
wird, deren Vorteil mit der parlamentarischen Staatsform unlöslich verknüpft ist.
In seiner jetzigen Entstehung und Gestalt ist der berufsständische Gedanke nichts
weiter als eine Reaktion gegenüber dem Parlamentarismus. Sicherlich wird er
diesen nur allmählich ablösen können, denn eine Jahrhunderte alte Entwicklung
wird nicht plötzlich abgebrochen.

Wer sich in das Wesen des Parlamentarismus zu vertiefen sucht, wird zu der
Überzeugung gelangen, daß seine Hauptaufgabe, die er auf dem europäischen Festland
durch den Anstoß der französischen Revolution erhielt, gelöst ist: die Herbeiführung


11*
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0175" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/337816"/>
          <fw type="header" place="top"> Der berufsständische Gedanke und die Landwirtschaft</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_642" prev="#ID_641"> gefühl, und dann werden die englischen und französischen Arbeiter, die sehr gelassen<lb/>
und ungerührt die Vergewaltigung der deutschen Arbeiter durch die Urteilssprüche<lb/>
von Versailles und Spa hingenommen haben, zum Widerstand aufgerüttelt werden,<lb/>
wenn es sich um Sowjetrußland handelt. Politisch könnte also die Vergewaltigung<lb/>
unserer Neutralität uns nützen; ob wir es benutzen werden, ist freilich eine andere<lb/>
Sache. Ein anderes freilich ist, ob die Entente nicht Polen militärisch seinem<lb/>
Schicksal überläßt und sich auf die Mittel der Blockade beschränken muß, weil sie<lb/>
nicht mehr genügend Soldaten für diesen Krieg, der kein Spaziergang sein wird,<lb/>
finden werden. In diesem Fall würde sie unsere Neutralität militärisch in Ruhe<lb/>
lassen, uns dagegen zur Teilnahme an der Blockade zwingen oder in die Blockade<lb/>
einbeziehen wollen. Dann laufen wir Gefahr, daß die Rote Armee, um Nahrung<lb/>
zu finden, aus Abenteuerlust oder Ruhmsucht, und daß die Bolschewisten, um den<lb/>
Brand der Weltrevolution weiterzutragen, in Deutschland einfallen, und daß unsere<lb/>
Linksradikalen und unsere Nationalbolschewisten die Stunde des Losschlagens ge¬<lb/>
kommen glauben. Es wäre dies die vierte und die scheußlichste Möglichkeit, die aus,<lb/>
der jetzigen Lage sich ergibt, in der wir überhaupt keine politischen Ziele verfolgen<lb/>
können, sondern den Brand im eigenen Hause bekämpfen und löschen müssen.</p><lb/>
          <note type="byline"> Priscus</note><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Der berufsständische Gedanke und die Landwirtschaft<lb/><note type="byline"> P. von Broecke</note> von</head><lb/>
          <p xml:id="ID_643"> &gt;&lt;&gt;«^&gt; »Z^v.ber den berufsständischen Gedanken herrschen vielfach unklare Auf¬<lb/>
fassungen. In ihnen mischen sich unrichtige Vorstellungen vom Mittel--<lb/>
älterlichen Zunftwesen mit ebenso mißverstandenen Anschauungen<lb/>
vom Wesen der russischen Sowjets, die sich beide auf das heutige<lb/>
Deutschland nicht übertragen lassen. Das Zunftwesen, in der mittel¬<lb/>
alterlichen Stadtwirtschaft sehr wohl am Platze, mußte schon verschwinden, als die<lb/>
Stadtwirtschaft in die Staatswirtschaft überging. Seine Wiederauferstehung im<lb/>
Zeitalter der Weltwirtschaft, die einen sehr viel weiteren Gesichtskreis aller leitenden<lb/>
Stellen erfordert, ist potiers undenkbar. Daß andererseits das Sowjetexperiment<lb/>
für uns nicht nachahmenswert ist, liegt bei dem völligen Verfall der russischen Wirt¬<lb/>
schaft klar zutage.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_644"> Zu welchen Formen sich der berufsständische Gedanke bei uns weiterentwickeln<lb/>
wird, ist zur Zeit noch nicht abzusehen. Fest steht bisher nur, daß er zusehends an<lb/>
Boden gewinnt, wenn er auch absichtlich von vielen mißverstanden und mißdeutet<lb/>
wird, deren Vorteil mit der parlamentarischen Staatsform unlöslich verknüpft ist.<lb/>
In seiner jetzigen Entstehung und Gestalt ist der berufsständische Gedanke nichts<lb/>
weiter als eine Reaktion gegenüber dem Parlamentarismus. Sicherlich wird er<lb/>
diesen nur allmählich ablösen können, denn eine Jahrhunderte alte Entwicklung<lb/>
wird nicht plötzlich abgebrochen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_645" next="#ID_646"> Wer sich in das Wesen des Parlamentarismus zu vertiefen sucht, wird zu der<lb/>
Überzeugung gelangen, daß seine Hauptaufgabe, die er auf dem europäischen Festland<lb/>
durch den Anstoß der französischen Revolution erhielt, gelöst ist: die Herbeiführung</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> 11*</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0175] Der berufsständische Gedanke und die Landwirtschaft gefühl, und dann werden die englischen und französischen Arbeiter, die sehr gelassen und ungerührt die Vergewaltigung der deutschen Arbeiter durch die Urteilssprüche von Versailles und Spa hingenommen haben, zum Widerstand aufgerüttelt werden, wenn es sich um Sowjetrußland handelt. Politisch könnte also die Vergewaltigung unserer Neutralität uns nützen; ob wir es benutzen werden, ist freilich eine andere Sache. Ein anderes freilich ist, ob die Entente nicht Polen militärisch seinem Schicksal überläßt und sich auf die Mittel der Blockade beschränken muß, weil sie nicht mehr genügend Soldaten für diesen Krieg, der kein Spaziergang sein wird, finden werden. In diesem Fall würde sie unsere Neutralität militärisch in Ruhe lassen, uns dagegen zur Teilnahme an der Blockade zwingen oder in die Blockade einbeziehen wollen. Dann laufen wir Gefahr, daß die Rote Armee, um Nahrung zu finden, aus Abenteuerlust oder Ruhmsucht, und daß die Bolschewisten, um den Brand der Weltrevolution weiterzutragen, in Deutschland einfallen, und daß unsere Linksradikalen und unsere Nationalbolschewisten die Stunde des Losschlagens ge¬ kommen glauben. Es wäre dies die vierte und die scheußlichste Möglichkeit, die aus, der jetzigen Lage sich ergibt, in der wir überhaupt keine politischen Ziele verfolgen können, sondern den Brand im eigenen Hause bekämpfen und löschen müssen. Priscus Der berufsständische Gedanke und die Landwirtschaft P. von Broecke von ><>«^> »Z^v.ber den berufsständischen Gedanken herrschen vielfach unklare Auf¬ fassungen. In ihnen mischen sich unrichtige Vorstellungen vom Mittel-- älterlichen Zunftwesen mit ebenso mißverstandenen Anschauungen vom Wesen der russischen Sowjets, die sich beide auf das heutige Deutschland nicht übertragen lassen. Das Zunftwesen, in der mittel¬ alterlichen Stadtwirtschaft sehr wohl am Platze, mußte schon verschwinden, als die Stadtwirtschaft in die Staatswirtschaft überging. Seine Wiederauferstehung im Zeitalter der Weltwirtschaft, die einen sehr viel weiteren Gesichtskreis aller leitenden Stellen erfordert, ist potiers undenkbar. Daß andererseits das Sowjetexperiment für uns nicht nachahmenswert ist, liegt bei dem völligen Verfall der russischen Wirt¬ schaft klar zutage. Zu welchen Formen sich der berufsständische Gedanke bei uns weiterentwickeln wird, ist zur Zeit noch nicht abzusehen. Fest steht bisher nur, daß er zusehends an Boden gewinnt, wenn er auch absichtlich von vielen mißverstanden und mißdeutet wird, deren Vorteil mit der parlamentarischen Staatsform unlöslich verknüpft ist. In seiner jetzigen Entstehung und Gestalt ist der berufsständische Gedanke nichts weiter als eine Reaktion gegenüber dem Parlamentarismus. Sicherlich wird er diesen nur allmählich ablösen können, denn eine Jahrhunderte alte Entwicklung wird nicht plötzlich abgebrochen. Wer sich in das Wesen des Parlamentarismus zu vertiefen sucht, wird zu der Überzeugung gelangen, daß seine Hauptaufgabe, die er auf dem europäischen Festland durch den Anstoß der französischen Revolution erhielt, gelöst ist: die Herbeiführung 11*

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341911_337640
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341911_337640/175
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 79, 1920, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341911_337640/175>, abgerufen am 29.06.2024.