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Die Grenzboten. Jg. 79, 1920, Drittes Vierteljahr.

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Hölle - weg - Erde

jer Friedensvertrag von Versailles ist nicht als Ullsteinbuch heraus¬
gekommen und hat es deshalb trotz seiner literarischen Unbeträcht¬
lichkeit zu keinem Auflagenerfolg gebracht. Er entscheidet über
das Schicksal von sechzig Millionen Menschen, -- sind es
noch sechzig Millionen? -- er verurteilt zwanzig davon zum
Hungertode, aber man liest ihn nicht. Vielleicht in dem fröhlichen Wahn, ihn
dadurch aus der Welt zu schaffen, wie Gespenster am sichersten dadurch gebannt
werden, daß niemand ihre Namen nennt, niemand sie zu kennen vorgibt. Beschäftigten
wir uns mehr mit dem furchtbaren Buch, dann gäbe es längst kein Lächeln mehr
in Deutschland, dann benutzten wir unsere Augen wirklich und wahrhaftig nur
noch zu dem Zweck, um dessentwillen die Gegner sie uns, ihrem eigenen Worte
nach, gelassen haben: um unser Elend beweinen zu können. Wer sich in den kurzen
Minuten, die dem Zeitgenossen zwischen Kettenhandel und Schlemmerdiele bleiben,
einmal flüchtig mit den Forderungen des Vertrags befaßt hat, der weiß, daß jeder
Gedanke an Rettung aus seinen Verstrickungen ruchloser Optimismus ist.

Ihm und uns andern allen leuchtet als einziger Trost die tiefinnere Über¬
zeugung: so schlimm kann es ja gar nicht kommen, wie die Clemcnceau und Lloyd
George, mit kopfnickendem Einverständnis der deutschen Bevollmächtigten und in
Hörweite des Unterschreibe! - Unterschreibegeschreis der Berliner U. S. P. D.¬
Politiker beschlossen haben. Das Leben ist seit dem 9. November 1918, unruhvoll
zwar, seinen Gang gegangen, Wahlen sind reichlich vorgenommen, Lohnkämpfc
von Straßenkämpfen abgelöst worden, und selbst in die schroffe Umdrehung des
wirtschaftlichen Rades, das unsere Gebildeten, die nötigsten zum deutschen Neu¬
aufbau, unbarmherzig zermalmt, haben wir uns leidlich gefunden. Daß die mit
Pech und Schwefel geladene Gomorrhawolke dauernd über uns schwebt, daß jeder
Tag die Verwirklichung der in Versailles niedergesehriebenen Blutparagraphen
erzwingen kann, dieser Qualgedanke beunruhigt uns kaum noch. Nicht, daß wir
die erkannte Gefahr leichtsinnig leicht nehmen. Denn wir kennen sie ja gar nicht.
Wie einen unerhört grausigen Angsttraum behandeln wir sie, wie einen wilden
und doch närrischen Schemen, der uns wohl nachts einmal sekundenlang das Herz


Grenzboten III 1920 1


Hölle - weg - Erde

jer Friedensvertrag von Versailles ist nicht als Ullsteinbuch heraus¬
gekommen und hat es deshalb trotz seiner literarischen Unbeträcht¬
lichkeit zu keinem Auflagenerfolg gebracht. Er entscheidet über
das Schicksal von sechzig Millionen Menschen, — sind es
noch sechzig Millionen? — er verurteilt zwanzig davon zum
Hungertode, aber man liest ihn nicht. Vielleicht in dem fröhlichen Wahn, ihn
dadurch aus der Welt zu schaffen, wie Gespenster am sichersten dadurch gebannt
werden, daß niemand ihre Namen nennt, niemand sie zu kennen vorgibt. Beschäftigten
wir uns mehr mit dem furchtbaren Buch, dann gäbe es längst kein Lächeln mehr
in Deutschland, dann benutzten wir unsere Augen wirklich und wahrhaftig nur
noch zu dem Zweck, um dessentwillen die Gegner sie uns, ihrem eigenen Worte
nach, gelassen haben: um unser Elend beweinen zu können. Wer sich in den kurzen
Minuten, die dem Zeitgenossen zwischen Kettenhandel und Schlemmerdiele bleiben,
einmal flüchtig mit den Forderungen des Vertrags befaßt hat, der weiß, daß jeder
Gedanke an Rettung aus seinen Verstrickungen ruchloser Optimismus ist.

Ihm und uns andern allen leuchtet als einziger Trost die tiefinnere Über¬
zeugung: so schlimm kann es ja gar nicht kommen, wie die Clemcnceau und Lloyd
George, mit kopfnickendem Einverständnis der deutschen Bevollmächtigten und in
Hörweite des Unterschreibe! - Unterschreibegeschreis der Berliner U. S. P. D.¬
Politiker beschlossen haben. Das Leben ist seit dem 9. November 1918, unruhvoll
zwar, seinen Gang gegangen, Wahlen sind reichlich vorgenommen, Lohnkämpfc
von Straßenkämpfen abgelöst worden, und selbst in die schroffe Umdrehung des
wirtschaftlichen Rades, das unsere Gebildeten, die nötigsten zum deutschen Neu¬
aufbau, unbarmherzig zermalmt, haben wir uns leidlich gefunden. Daß die mit
Pech und Schwefel geladene Gomorrhawolke dauernd über uns schwebt, daß jeder
Tag die Verwirklichung der in Versailles niedergesehriebenen Blutparagraphen
erzwingen kann, dieser Qualgedanke beunruhigt uns kaum noch. Nicht, daß wir
die erkannte Gefahr leichtsinnig leicht nehmen. Denn wir kennen sie ja gar nicht.
Wie einen unerhört grausigen Angsttraum behandeln wir sie, wie einen wilden
und doch närrischen Schemen, der uns wohl nachts einmal sekundenlang das Herz


Grenzboten III 1920 1
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[0013] [Abbildung] Hölle - weg - Erde jer Friedensvertrag von Versailles ist nicht als Ullsteinbuch heraus¬ gekommen und hat es deshalb trotz seiner literarischen Unbeträcht¬ lichkeit zu keinem Auflagenerfolg gebracht. Er entscheidet über das Schicksal von sechzig Millionen Menschen, — sind es noch sechzig Millionen? — er verurteilt zwanzig davon zum Hungertode, aber man liest ihn nicht. Vielleicht in dem fröhlichen Wahn, ihn dadurch aus der Welt zu schaffen, wie Gespenster am sichersten dadurch gebannt werden, daß niemand ihre Namen nennt, niemand sie zu kennen vorgibt. Beschäftigten wir uns mehr mit dem furchtbaren Buch, dann gäbe es längst kein Lächeln mehr in Deutschland, dann benutzten wir unsere Augen wirklich und wahrhaftig nur noch zu dem Zweck, um dessentwillen die Gegner sie uns, ihrem eigenen Worte nach, gelassen haben: um unser Elend beweinen zu können. Wer sich in den kurzen Minuten, die dem Zeitgenossen zwischen Kettenhandel und Schlemmerdiele bleiben, einmal flüchtig mit den Forderungen des Vertrags befaßt hat, der weiß, daß jeder Gedanke an Rettung aus seinen Verstrickungen ruchloser Optimismus ist. Ihm und uns andern allen leuchtet als einziger Trost die tiefinnere Über¬ zeugung: so schlimm kann es ja gar nicht kommen, wie die Clemcnceau und Lloyd George, mit kopfnickendem Einverständnis der deutschen Bevollmächtigten und in Hörweite des Unterschreibe! - Unterschreibegeschreis der Berliner U. S. P. D.¬ Politiker beschlossen haben. Das Leben ist seit dem 9. November 1918, unruhvoll zwar, seinen Gang gegangen, Wahlen sind reichlich vorgenommen, Lohnkämpfc von Straßenkämpfen abgelöst worden, und selbst in die schroffe Umdrehung des wirtschaftlichen Rades, das unsere Gebildeten, die nötigsten zum deutschen Neu¬ aufbau, unbarmherzig zermalmt, haben wir uns leidlich gefunden. Daß die mit Pech und Schwefel geladene Gomorrhawolke dauernd über uns schwebt, daß jeder Tag die Verwirklichung der in Versailles niedergesehriebenen Blutparagraphen erzwingen kann, dieser Qualgedanke beunruhigt uns kaum noch. Nicht, daß wir die erkannte Gefahr leichtsinnig leicht nehmen. Denn wir kennen sie ja gar nicht. Wie einen unerhört grausigen Angsttraum behandeln wir sie, wie einen wilden und doch närrischen Schemen, der uns wohl nachts einmal sekundenlang das Herz Grenzboten III 1920 1

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 79, 1920, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341911_337640/13>, abgerufen am 29.06.2024.