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Die Grenzboten. Jg. 79, 1920, Erstes Vierteljahr.

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Georg Cleinow und die Grenzboten

Georg (Lleinow und die Grenzboten
v Dr, Mathilde Kelchner on

"Leben ist Kampf,
und Kampf ist Tat/'

!is Georg Cleinow im Sommer des Jahres 1909 die Leitung
der Grenzboten übernahm, war er kurz zuvor aus dem Aus¬
lande zurückgekehrt. AIs 25 jähriger hatte er die militärische Laufbahn
verlassen. Er widmete sich an der Universität Berlin, später in
^ Paris und Genf eingehenden volkswirtschaftlichen und geschichtlichen
Studien. Ihn fesselten in hohem Maße die osteuropäischen Fragen, insbesondere
polnische und russische Geschichte, Wirtschaft und Politik in ihren Beziehungen zu
Deutschland und dem Deutschtum. Nach zweijähriger praktischerBetätigung im Bank¬
geschäft und in der Industrie ging er nach Rußland, um auf Grund eigner An¬
schauung die dortigen Verhältnisse beurteilen zu können. Nicht nur durch ge¬
lehrte Forschung in Bibliotheken und Archiven, sondern -- und das ist das
Entscheidende für die richtige Erfassung des Auslandes -- durch Arbeiten, die
ihn mit der breiten Masse der Bevölkerung in Fühlung brachten -- er unter¬
suchte unter anderm die Lage der Hausindustrie in Tula ^) -- und durch
Anknüpfung von Beziehungen zu allen Geh.llschaftsschichten, was ihm durch
gute Sprachkenntnisse, insbesondere des Russischen und Polnischen, möglich
war. gewann er einen tiefen Einblick in die seelische Beschaffenheit des russischen
Volkes, seine Lebensformen, seine Nöte und Hoffnungen. ^) Die ihm eigene
Gabe, Zusammenhänge mit sicherem Blick schnell zu erfassen und lebendig zur
Darstellung zu bringen, führte ihn dazu, seine Beobachtungen und Erfahrungen
publizistisch zu verwerten. Als Korrespondent angesehener deutscher Zeitungen
tätig, schrieb er seit 1904 auch Beiträge für die Grenzboten.

Nach sieben Jahren trieb es ihn in die Heimat zurück. Wie sah er sie
wieder? In hochgeschraubtem Wohlstand, vielgeschäftig und genußsüchtig, ohne
rechte Freudigkeit im Wollen und Vollbringen, erfüllt von Mißmut und Mi߬
trauen -- nach außen glanzvoll, im Innern schwach. Wie war diese Ent¬
wicklung möglich geworden, durch welche Faktoren wurde sie getragen, wohin
trieb das stolze Schiff Deutschland, wo sollte es landen? Wenn ihm die Augen
hell geworden waren durch die Arbeit am fremden Volkstum, so schlug sein
Herz um so stärker für das eigene. Selbst noch völlig unter dem Eindruck der
1905 in Rußland erlebten Revolution stehend, war es für seinen regsamen
Geist und sein leidenschaftliches Temperament eine lockende Aufgabe, Deutsch¬
lands Schicksal zu ergründen, den Fäden nachzuspüren, die sich unheilvoll zu
verwirren drohten und zu seinem Teil klärend und wegweisend zu wirken, um




>) Erschienen in Schmollers Forschungen. Duncker u. Humblot in München. 1S04.
"
2) G, Cleinow "Aus Rußlands Not und Hoffen. Verlag von Friedr. Wilh. Grunow
Leipzig. 2 Bände.
Georg Cleinow und die Grenzboten

Georg (Lleinow und die Grenzboten
v Dr, Mathilde Kelchner on

„Leben ist Kampf,
und Kampf ist Tat/'

!is Georg Cleinow im Sommer des Jahres 1909 die Leitung
der Grenzboten übernahm, war er kurz zuvor aus dem Aus¬
lande zurückgekehrt. AIs 25 jähriger hatte er die militärische Laufbahn
verlassen. Er widmete sich an der Universität Berlin, später in
^ Paris und Genf eingehenden volkswirtschaftlichen und geschichtlichen
Studien. Ihn fesselten in hohem Maße die osteuropäischen Fragen, insbesondere
polnische und russische Geschichte, Wirtschaft und Politik in ihren Beziehungen zu
Deutschland und dem Deutschtum. Nach zweijähriger praktischerBetätigung im Bank¬
geschäft und in der Industrie ging er nach Rußland, um auf Grund eigner An¬
schauung die dortigen Verhältnisse beurteilen zu können. Nicht nur durch ge¬
lehrte Forschung in Bibliotheken und Archiven, sondern — und das ist das
Entscheidende für die richtige Erfassung des Auslandes — durch Arbeiten, die
ihn mit der breiten Masse der Bevölkerung in Fühlung brachten — er unter¬
suchte unter anderm die Lage der Hausindustrie in Tula ^) — und durch
Anknüpfung von Beziehungen zu allen Geh.llschaftsschichten, was ihm durch
gute Sprachkenntnisse, insbesondere des Russischen und Polnischen, möglich
war. gewann er einen tiefen Einblick in die seelische Beschaffenheit des russischen
Volkes, seine Lebensformen, seine Nöte und Hoffnungen. ^) Die ihm eigene
Gabe, Zusammenhänge mit sicherem Blick schnell zu erfassen und lebendig zur
Darstellung zu bringen, führte ihn dazu, seine Beobachtungen und Erfahrungen
publizistisch zu verwerten. Als Korrespondent angesehener deutscher Zeitungen
tätig, schrieb er seit 1904 auch Beiträge für die Grenzboten.

Nach sieben Jahren trieb es ihn in die Heimat zurück. Wie sah er sie
wieder? In hochgeschraubtem Wohlstand, vielgeschäftig und genußsüchtig, ohne
rechte Freudigkeit im Wollen und Vollbringen, erfüllt von Mißmut und Mi߬
trauen — nach außen glanzvoll, im Innern schwach. Wie war diese Ent¬
wicklung möglich geworden, durch welche Faktoren wurde sie getragen, wohin
trieb das stolze Schiff Deutschland, wo sollte es landen? Wenn ihm die Augen
hell geworden waren durch die Arbeit am fremden Volkstum, so schlug sein
Herz um so stärker für das eigene. Selbst noch völlig unter dem Eindruck der
1905 in Rußland erlebten Revolution stehend, war es für seinen regsamen
Geist und sein leidenschaftliches Temperament eine lockende Aufgabe, Deutsch¬
lands Schicksal zu ergründen, den Fäden nachzuspüren, die sich unheilvoll zu
verwirren drohten und zu seinem Teil klärend und wegweisend zu wirken, um




>) Erschienen in Schmollers Forschungen. Duncker u. Humblot in München. 1S04.
"
2) G, Cleinow „Aus Rußlands Not und Hoffen. Verlag von Friedr. Wilh. Grunow
Leipzig. 2 Bände.
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[0016] Georg Cleinow und die Grenzboten Georg (Lleinow und die Grenzboten v Dr, Mathilde Kelchner on „Leben ist Kampf, und Kampf ist Tat/' !is Georg Cleinow im Sommer des Jahres 1909 die Leitung der Grenzboten übernahm, war er kurz zuvor aus dem Aus¬ lande zurückgekehrt. AIs 25 jähriger hatte er die militärische Laufbahn verlassen. Er widmete sich an der Universität Berlin, später in ^ Paris und Genf eingehenden volkswirtschaftlichen und geschichtlichen Studien. Ihn fesselten in hohem Maße die osteuropäischen Fragen, insbesondere polnische und russische Geschichte, Wirtschaft und Politik in ihren Beziehungen zu Deutschland und dem Deutschtum. Nach zweijähriger praktischerBetätigung im Bank¬ geschäft und in der Industrie ging er nach Rußland, um auf Grund eigner An¬ schauung die dortigen Verhältnisse beurteilen zu können. Nicht nur durch ge¬ lehrte Forschung in Bibliotheken und Archiven, sondern — und das ist das Entscheidende für die richtige Erfassung des Auslandes — durch Arbeiten, die ihn mit der breiten Masse der Bevölkerung in Fühlung brachten — er unter¬ suchte unter anderm die Lage der Hausindustrie in Tula ^) — und durch Anknüpfung von Beziehungen zu allen Geh.llschaftsschichten, was ihm durch gute Sprachkenntnisse, insbesondere des Russischen und Polnischen, möglich war. gewann er einen tiefen Einblick in die seelische Beschaffenheit des russischen Volkes, seine Lebensformen, seine Nöte und Hoffnungen. ^) Die ihm eigene Gabe, Zusammenhänge mit sicherem Blick schnell zu erfassen und lebendig zur Darstellung zu bringen, führte ihn dazu, seine Beobachtungen und Erfahrungen publizistisch zu verwerten. Als Korrespondent angesehener deutscher Zeitungen tätig, schrieb er seit 1904 auch Beiträge für die Grenzboten. Nach sieben Jahren trieb es ihn in die Heimat zurück. Wie sah er sie wieder? In hochgeschraubtem Wohlstand, vielgeschäftig und genußsüchtig, ohne rechte Freudigkeit im Wollen und Vollbringen, erfüllt von Mißmut und Mi߬ trauen — nach außen glanzvoll, im Innern schwach. Wie war diese Ent¬ wicklung möglich geworden, durch welche Faktoren wurde sie getragen, wohin trieb das stolze Schiff Deutschland, wo sollte es landen? Wenn ihm die Augen hell geworden waren durch die Arbeit am fremden Volkstum, so schlug sein Herz um so stärker für das eigene. Selbst noch völlig unter dem Eindruck der 1905 in Rußland erlebten Revolution stehend, war es für seinen regsamen Geist und sein leidenschaftliches Temperament eine lockende Aufgabe, Deutsch¬ lands Schicksal zu ergründen, den Fäden nachzuspüren, die sich unheilvoll zu verwirren drohten und zu seinem Teil klärend und wegweisend zu wirken, um >) Erschienen in Schmollers Forschungen. Duncker u. Humblot in München. 1S04. " 2) G, Cleinow „Aus Rußlands Not und Hoffen. Verlag von Friedr. Wilh. Grunow Leipzig. 2 Bände.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 79, 1920, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341911_336844/16>, abgerufen am 27.07.2024.