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Die Grenzboten. Jg. 78, 1919, Zweites Vierteljahr.

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Materialien zur ostdeutschen Frage

Zur (Charakterisierungder polnischen Presse

[Beginn Spaltensatz]

Durch die polnische Presse weht der Hauch
eines schrankenlosen Imperialismus. Es ist,
als ob einem angestauter Bergbach daS däm¬
merte Wehr entzogen wird, und er mit
ungehemmter Wucht sein Bett verläßt und
ins Uferlose sich ergießt. Der dem neu¬
erstandenen Polnischen Nationalismus durch
das Wilsonprogramm vorbezeichnete Weg
wird verlassen, hochfliegenden Zukunftsplänen
wird nachgejagt und über der an unserer
Ohnmacht großgewordenen Machtbegier wird
ganz und gar vergessen, daß Polen unser
Nachbar ist, mit dem es für später in beider¬
seitig erträglicher Weise schließlich auskommen
muß. Hieran denkt zurzeit noch niemand.
Polens Nachbar ist Frankreich. Das da¬
zwischenliegende Deutschland bildet für den
polnischen Emporkömmling eine "czuantitö
nügliZeable", gut genug dafür, daß man
daraus Milliardenentschädigungen, Material,
schließlich auch Menschen und Grund und
Boden herauspressen könnte.

Von Frankreich erhofft man alles. Der
Pole fühlt sich dem Franzosen kongenial, im
Haß gegen Deutschland und in der impe¬
rialistischen Gier. Das Fallen und Steigen
des Friedensbarometers in Paris wird mit
der gespanntesten Aufmerksamkeit verfolgt, die
französische Politik spricht den Polnischen
Wünschen aus dem Herzen, Frankreichs Sache
ist die Polens. Beider Interessen decken sich
völlig in einem Punkte. Möglichste Schwächung
Deutschlands. Wer von den andern Alliierten
nicht blindlings diese französisch-polnische
Politik mitmacht, wer neben dem Standpunkt
des allmächtigen Siegers noch berücksichtigen
möchte, daß auch im eigenen Interesse eine
völlige Verstümmelung und Knechtung Deutsch¬
lands nicht erwünscht sein kann, gilt als Ver¬
räter an der heiligen polnischen Sache. Die
polnische Devise bleibt, mag Deutschland
sterben, wenn nur Polen das erhält, was es
als sein vermeintliches Recht betrachtet.

Dieses Recht fällt nicht mit dem Anspruch
zusammen, den Polen auf Grund der als
die Friedensbasis anzusehenden Wilsonschen
Punkte erheben darf. Die polnische Presse
ist freimütig genug, das Programm Wilsons

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nicht im Sinne einer Beschränkung ihrer
nationalen Bestrebungen anzuerkennen. Sie
ist durchaus gegen die Anschauung, als ob
Polen, das -- abgesehen von dem früheren
Schritt der Zenlralmächte -- erst durch die
Festlegung der kriegführenden Mächte aus
das Wilsonprogramm einen internationalen
Anspruch auf Selbständigkeit hielt, irgendwie
daran gebunden sei. Polen verlangt schranken¬
lose Berücksichtigung seiner Ansprüche aus
eigenem Recht, unbekümmert darum, ob sie
mit den allgemeinen Forderungen Wilsons
auf Anerkennung des Nationalitätenprinzips
und des Selbstbestimmungsrechts der Völker
kollidieren. Ebensowenig wie Frankreich ist
Polen geneigt, zugunsten dieser beiden
Prinzipien irgendwelche Zugeständnisse zu
machen. Wenn die polnische Presse sich des
öfteren auf die Rechte Polens aus den Wil¬
sonschen Punkten beruft, so wird damit ent¬
weder nur ein Teil der Rechte begründet,
oder aber eS wird den Formulierungen
Wilsons eine extensive Auslegung gegeben,
die ihrem eigenen Sinn diametral entgegen¬
läuft.

Die Polnische Presse basiert ihre Ansprüche
zunächst auf das sogenannte "historische Recht".
Sie weiß sehr gut, daß dieses Recht, falls es
nicht in dem leeren Sinne einer billigen
Phrase, eines blenden sollenden Schlagwortes
gebraucht wird, der heutigen Anschauung
nicht mehr entspricht, daß gerade die Alliierten
gegen das "historische Roche" zugunsten des
Selbstbestimmungsrechtes der Völker ins
Feld gezogen sind. Ihre These fordert die
Wiederherstellung des historischen Polens,
grundsätzlich des Reiches vor 1772, eines
Staates also, der in seiner damaligen Zu¬
sammensetzung kein Nationalstaat, sondern
ein aus verschiedenen Nationalitäten be¬
stehender und durch das Gesetz der Eroberung
zusammengehaltener Staat war. Mit anderen
Worten, es wird die Aufrichtung eines Zu¬
standes gefordert, den die von Wilson inspi¬
rierte Neuordnung der Weltverhültnisse für
immer beseitigt wissen möchte. Innerhalb
dieses wieder zu errichtenden StaatsgebildeS
kennt die Polnische Presse kein anderes

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Zur (Charakterisierungder polnischen Presse

[Beginn Spaltensatz]

Durch die polnische Presse weht der Hauch
eines schrankenlosen Imperialismus. Es ist,
als ob einem angestauter Bergbach daS däm¬
merte Wehr entzogen wird, und er mit
ungehemmter Wucht sein Bett verläßt und
ins Uferlose sich ergießt. Der dem neu¬
erstandenen Polnischen Nationalismus durch
das Wilsonprogramm vorbezeichnete Weg
wird verlassen, hochfliegenden Zukunftsplänen
wird nachgejagt und über der an unserer
Ohnmacht großgewordenen Machtbegier wird
ganz und gar vergessen, daß Polen unser
Nachbar ist, mit dem es für später in beider¬
seitig erträglicher Weise schließlich auskommen
muß. Hieran denkt zurzeit noch niemand.
Polens Nachbar ist Frankreich. Das da¬
zwischenliegende Deutschland bildet für den
polnischen Emporkömmling eine „czuantitö
nügliZeable", gut genug dafür, daß man
daraus Milliardenentschädigungen, Material,
schließlich auch Menschen und Grund und
Boden herauspressen könnte.

Von Frankreich erhofft man alles. Der
Pole fühlt sich dem Franzosen kongenial, im
Haß gegen Deutschland und in der impe¬
rialistischen Gier. Das Fallen und Steigen
des Friedensbarometers in Paris wird mit
der gespanntesten Aufmerksamkeit verfolgt, die
französische Politik spricht den Polnischen
Wünschen aus dem Herzen, Frankreichs Sache
ist die Polens. Beider Interessen decken sich
völlig in einem Punkte. Möglichste Schwächung
Deutschlands. Wer von den andern Alliierten
nicht blindlings diese französisch-polnische
Politik mitmacht, wer neben dem Standpunkt
des allmächtigen Siegers noch berücksichtigen
möchte, daß auch im eigenen Interesse eine
völlige Verstümmelung und Knechtung Deutsch¬
lands nicht erwünscht sein kann, gilt als Ver¬
räter an der heiligen polnischen Sache. Die
polnische Devise bleibt, mag Deutschland
sterben, wenn nur Polen das erhält, was es
als sein vermeintliches Recht betrachtet.

Dieses Recht fällt nicht mit dem Anspruch
zusammen, den Polen auf Grund der als
die Friedensbasis anzusehenden Wilsonschen
Punkte erheben darf. Die polnische Presse
ist freimütig genug, das Programm Wilsons

[Spaltenumbruch]

nicht im Sinne einer Beschränkung ihrer
nationalen Bestrebungen anzuerkennen. Sie
ist durchaus gegen die Anschauung, als ob
Polen, das — abgesehen von dem früheren
Schritt der Zenlralmächte — erst durch die
Festlegung der kriegführenden Mächte aus
das Wilsonprogramm einen internationalen
Anspruch auf Selbständigkeit hielt, irgendwie
daran gebunden sei. Polen verlangt schranken¬
lose Berücksichtigung seiner Ansprüche aus
eigenem Recht, unbekümmert darum, ob sie
mit den allgemeinen Forderungen Wilsons
auf Anerkennung des Nationalitätenprinzips
und des Selbstbestimmungsrechts der Völker
kollidieren. Ebensowenig wie Frankreich ist
Polen geneigt, zugunsten dieser beiden
Prinzipien irgendwelche Zugeständnisse zu
machen. Wenn die polnische Presse sich des
öfteren auf die Rechte Polens aus den Wil¬
sonschen Punkten beruft, so wird damit ent¬
weder nur ein Teil der Rechte begründet,
oder aber eS wird den Formulierungen
Wilsons eine extensive Auslegung gegeben,
die ihrem eigenen Sinn diametral entgegen¬
läuft.

Die Polnische Presse basiert ihre Ansprüche
zunächst auf das sogenannte „historische Recht".
Sie weiß sehr gut, daß dieses Recht, falls es
nicht in dem leeren Sinne einer billigen
Phrase, eines blenden sollenden Schlagwortes
gebraucht wird, der heutigen Anschauung
nicht mehr entspricht, daß gerade die Alliierten
gegen das „historische Roche" zugunsten des
Selbstbestimmungsrechtes der Völker ins
Feld gezogen sind. Ihre These fordert die
Wiederherstellung des historischen Polens,
grundsätzlich des Reiches vor 1772, eines
Staates also, der in seiner damaligen Zu¬
sammensetzung kein Nationalstaat, sondern
ein aus verschiedenen Nationalitäten be¬
stehender und durch das Gesetz der Eroberung
zusammengehaltener Staat war. Mit anderen
Worten, es wird die Aufrichtung eines Zu¬
standes gefordert, den die von Wilson inspi¬
rierte Neuordnung der Weltverhültnisse für
immer beseitigt wissen möchte. Innerhalb
dieses wieder zu errichtenden StaatsgebildeS
kennt die Polnische Presse kein anderes

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[0454] Materialien zur ostdeutschen Frage Zur (Charakterisierungder polnischen Presse Durch die polnische Presse weht der Hauch eines schrankenlosen Imperialismus. Es ist, als ob einem angestauter Bergbach daS däm¬ merte Wehr entzogen wird, und er mit ungehemmter Wucht sein Bett verläßt und ins Uferlose sich ergießt. Der dem neu¬ erstandenen Polnischen Nationalismus durch das Wilsonprogramm vorbezeichnete Weg wird verlassen, hochfliegenden Zukunftsplänen wird nachgejagt und über der an unserer Ohnmacht großgewordenen Machtbegier wird ganz und gar vergessen, daß Polen unser Nachbar ist, mit dem es für später in beider¬ seitig erträglicher Weise schließlich auskommen muß. Hieran denkt zurzeit noch niemand. Polens Nachbar ist Frankreich. Das da¬ zwischenliegende Deutschland bildet für den polnischen Emporkömmling eine „czuantitö nügliZeable", gut genug dafür, daß man daraus Milliardenentschädigungen, Material, schließlich auch Menschen und Grund und Boden herauspressen könnte. Von Frankreich erhofft man alles. Der Pole fühlt sich dem Franzosen kongenial, im Haß gegen Deutschland und in der impe¬ rialistischen Gier. Das Fallen und Steigen des Friedensbarometers in Paris wird mit der gespanntesten Aufmerksamkeit verfolgt, die französische Politik spricht den Polnischen Wünschen aus dem Herzen, Frankreichs Sache ist die Polens. Beider Interessen decken sich völlig in einem Punkte. Möglichste Schwächung Deutschlands. Wer von den andern Alliierten nicht blindlings diese französisch-polnische Politik mitmacht, wer neben dem Standpunkt des allmächtigen Siegers noch berücksichtigen möchte, daß auch im eigenen Interesse eine völlige Verstümmelung und Knechtung Deutsch¬ lands nicht erwünscht sein kann, gilt als Ver¬ räter an der heiligen polnischen Sache. Die polnische Devise bleibt, mag Deutschland sterben, wenn nur Polen das erhält, was es als sein vermeintliches Recht betrachtet. Dieses Recht fällt nicht mit dem Anspruch zusammen, den Polen auf Grund der als die Friedensbasis anzusehenden Wilsonschen Punkte erheben darf. Die polnische Presse ist freimütig genug, das Programm Wilsons nicht im Sinne einer Beschränkung ihrer nationalen Bestrebungen anzuerkennen. Sie ist durchaus gegen die Anschauung, als ob Polen, das — abgesehen von dem früheren Schritt der Zenlralmächte — erst durch die Festlegung der kriegführenden Mächte aus das Wilsonprogramm einen internationalen Anspruch auf Selbständigkeit hielt, irgendwie daran gebunden sei. Polen verlangt schranken¬ lose Berücksichtigung seiner Ansprüche aus eigenem Recht, unbekümmert darum, ob sie mit den allgemeinen Forderungen Wilsons auf Anerkennung des Nationalitätenprinzips und des Selbstbestimmungsrechts der Völker kollidieren. Ebensowenig wie Frankreich ist Polen geneigt, zugunsten dieser beiden Prinzipien irgendwelche Zugeständnisse zu machen. Wenn die polnische Presse sich des öfteren auf die Rechte Polens aus den Wil¬ sonschen Punkten beruft, so wird damit ent¬ weder nur ein Teil der Rechte begründet, oder aber eS wird den Formulierungen Wilsons eine extensive Auslegung gegeben, die ihrem eigenen Sinn diametral entgegen¬ läuft. Die Polnische Presse basiert ihre Ansprüche zunächst auf das sogenannte „historische Recht". Sie weiß sehr gut, daß dieses Recht, falls es nicht in dem leeren Sinne einer billigen Phrase, eines blenden sollenden Schlagwortes gebraucht wird, der heutigen Anschauung nicht mehr entspricht, daß gerade die Alliierten gegen das „historische Roche" zugunsten des Selbstbestimmungsrechtes der Völker ins Feld gezogen sind. Ihre These fordert die Wiederherstellung des historischen Polens, grundsätzlich des Reiches vor 1772, eines Staates also, der in seiner damaligen Zu¬ sammensetzung kein Nationalstaat, sondern ein aus verschiedenen Nationalitäten be¬ stehender und durch das Gesetz der Eroberung zusammengehaltener Staat war. Mit anderen Worten, es wird die Aufrichtung eines Zu¬ standes gefordert, den die von Wilson inspi¬ rierte Neuordnung der Weltverhültnisse für immer beseitigt wissen möchte. Innerhalb dieses wieder zu errichtenden StaatsgebildeS kennt die Polnische Presse kein anderes

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 78, 1919, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341909_335407/454>, abgerufen am 18.12.2024.