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Die Grenzboten. Jg. 77, 1918, Drittes Vierteljahr.

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Um Rußland
Georg Lleinow von

or dem Kriege war es bequemer, über Nußland politisch zu schreiben.
Der Begriff war klar: jene grüne Fläche auf den Landkarten, die
sich über Osteuropa und Nordasien ausdehnend, den fünften Teil
der Erdoberfläche ohne die Meere einnahm. Das war Rußland.
Die Spinne aus Eisenbahnkreuzungen inmitten des europäischen
Teiles, Moskau, war das wirtschaftliche Herz, oben am kühlen Finnischen Meer¬
busen hämmerte das leidenschaftliche politische Herz dieses Giganten unter den
Weltstaaten. Dies sehr einfache, sehr unkomplizierte, in seinen Weltbeziehungen
leicht zu kontrollierende Nußland ist verschwunden. Vor uns liegt das andere,
das Rußland der Geheimbünde, der Sektierer, das vielgestaltige Babylon mit
fünfzig und mehr Sprachen, mit hundert Parteien, das Rußland der Dostojewski
Tolstoi, aber auch das Rußland der Gorki, Plechanow, Lenin, der Tscheidse und
Matschjabeli. Politisch ist dies Rußland ein noch unfertiges Mosaik: die Ver¬
bindungssteine zwischen den einzelnen Figuren fehlen, ebenso wie der Kitt, der
alles zusammenhalten soll. Es weiß wohl niemand genau, in wie viele Teile
Rußland zerfallen ist und wo sie aneinander grenzen. Am sichersten sind noch
die Gebiete zu überblicken, die Deutschland und Österreich-Ungarn eroberten; aber
auch deren östliche Grenzen sind unsicher. Sprechen wir in Zukunft von Rußland,
so meinen wir jene fünfzig Gouvernements mit rund neunzig Millionen Ein¬
wohnern, von denen die Sowjetregierung zu Moskau behauptet, sie unterstünden
ihrer Botmäßigkeit. Dazu gehören also Sibirien und die Murmanküste ebenso
wie die Donrepublik, der Kaukasus und Russisch-Zentralasien. Ausgeschlossen sind
Finnland, die baltischen Provinzen, Litauen, Polen, Weißrußland, die Ukraina,
das von den Rumänen besetzte Beßarabien, die tatarische Republik der Krim und
die von Türken und Russen gleich stark bedrohte Republik Georgien.

Nach dem Abschluß des Vertrages von Brest-Litowsk und der Schilderhebung
Ckoropadskis in Kijew sollte uns eigentlich die "Föderative sozial-revolutionäre
Räterepublik Rußland" als ein verendender Riese kaum noch etwas angehen.
Nordrußland sollte für uns für die Dauer des Krieges kaum in Betracht


Grenzboten III 191L 7


Um Rußland
Georg Lleinow von

or dem Kriege war es bequemer, über Nußland politisch zu schreiben.
Der Begriff war klar: jene grüne Fläche auf den Landkarten, die
sich über Osteuropa und Nordasien ausdehnend, den fünften Teil
der Erdoberfläche ohne die Meere einnahm. Das war Rußland.
Die Spinne aus Eisenbahnkreuzungen inmitten des europäischen
Teiles, Moskau, war das wirtschaftliche Herz, oben am kühlen Finnischen Meer¬
busen hämmerte das leidenschaftliche politische Herz dieses Giganten unter den
Weltstaaten. Dies sehr einfache, sehr unkomplizierte, in seinen Weltbeziehungen
leicht zu kontrollierende Nußland ist verschwunden. Vor uns liegt das andere,
das Rußland der Geheimbünde, der Sektierer, das vielgestaltige Babylon mit
fünfzig und mehr Sprachen, mit hundert Parteien, das Rußland der Dostojewski
Tolstoi, aber auch das Rußland der Gorki, Plechanow, Lenin, der Tscheidse und
Matschjabeli. Politisch ist dies Rußland ein noch unfertiges Mosaik: die Ver¬
bindungssteine zwischen den einzelnen Figuren fehlen, ebenso wie der Kitt, der
alles zusammenhalten soll. Es weiß wohl niemand genau, in wie viele Teile
Rußland zerfallen ist und wo sie aneinander grenzen. Am sichersten sind noch
die Gebiete zu überblicken, die Deutschland und Österreich-Ungarn eroberten; aber
auch deren östliche Grenzen sind unsicher. Sprechen wir in Zukunft von Rußland,
so meinen wir jene fünfzig Gouvernements mit rund neunzig Millionen Ein¬
wohnern, von denen die Sowjetregierung zu Moskau behauptet, sie unterstünden
ihrer Botmäßigkeit. Dazu gehören also Sibirien und die Murmanküste ebenso
wie die Donrepublik, der Kaukasus und Russisch-Zentralasien. Ausgeschlossen sind
Finnland, die baltischen Provinzen, Litauen, Polen, Weißrußland, die Ukraina,
das von den Rumänen besetzte Beßarabien, die tatarische Republik der Krim und
die von Türken und Russen gleich stark bedrohte Republik Georgien.

Nach dem Abschluß des Vertrages von Brest-Litowsk und der Schilderhebung
Ckoropadskis in Kijew sollte uns eigentlich die „Föderative sozial-revolutionäre
Räterepublik Rußland" als ein verendender Riese kaum noch etwas angehen.
Nordrußland sollte für uns für die Dauer des Krieges kaum in Betracht


Grenzboten III 191L 7
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[0085] [Abbildung] Um Rußland Georg Lleinow von or dem Kriege war es bequemer, über Nußland politisch zu schreiben. Der Begriff war klar: jene grüne Fläche auf den Landkarten, die sich über Osteuropa und Nordasien ausdehnend, den fünften Teil der Erdoberfläche ohne die Meere einnahm. Das war Rußland. Die Spinne aus Eisenbahnkreuzungen inmitten des europäischen Teiles, Moskau, war das wirtschaftliche Herz, oben am kühlen Finnischen Meer¬ busen hämmerte das leidenschaftliche politische Herz dieses Giganten unter den Weltstaaten. Dies sehr einfache, sehr unkomplizierte, in seinen Weltbeziehungen leicht zu kontrollierende Nußland ist verschwunden. Vor uns liegt das andere, das Rußland der Geheimbünde, der Sektierer, das vielgestaltige Babylon mit fünfzig und mehr Sprachen, mit hundert Parteien, das Rußland der Dostojewski Tolstoi, aber auch das Rußland der Gorki, Plechanow, Lenin, der Tscheidse und Matschjabeli. Politisch ist dies Rußland ein noch unfertiges Mosaik: die Ver¬ bindungssteine zwischen den einzelnen Figuren fehlen, ebenso wie der Kitt, der alles zusammenhalten soll. Es weiß wohl niemand genau, in wie viele Teile Rußland zerfallen ist und wo sie aneinander grenzen. Am sichersten sind noch die Gebiete zu überblicken, die Deutschland und Österreich-Ungarn eroberten; aber auch deren östliche Grenzen sind unsicher. Sprechen wir in Zukunft von Rußland, so meinen wir jene fünfzig Gouvernements mit rund neunzig Millionen Ein¬ wohnern, von denen die Sowjetregierung zu Moskau behauptet, sie unterstünden ihrer Botmäßigkeit. Dazu gehören also Sibirien und die Murmanküste ebenso wie die Donrepublik, der Kaukasus und Russisch-Zentralasien. Ausgeschlossen sind Finnland, die baltischen Provinzen, Litauen, Polen, Weißrußland, die Ukraina, das von den Rumänen besetzte Beßarabien, die tatarische Republik der Krim und die von Türken und Russen gleich stark bedrohte Republik Georgien. Nach dem Abschluß des Vertrages von Brest-Litowsk und der Schilderhebung Ckoropadskis in Kijew sollte uns eigentlich die „Föderative sozial-revolutionäre Räterepublik Rußland" als ein verendender Riese kaum noch etwas angehen. Nordrußland sollte für uns für die Dauer des Krieges kaum in Betracht Grenzboten III 191L 7

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 77, 1918, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341907_333844/85>, abgerufen am 22.07.2024.