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Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Erstes Vierteljahr.

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Neue Ziele, neue Wege
Dr. H. Handle von

in zweiten Buche seines philosophischen Hauptwerkes "Die Welt
als Wille und Vorstellung" weist Schopenhauer auf die "wunder¬
liche Tatsache" hin. "daß jeder a priori sich als ganz frei auch
in seinen einzelnen Handlungen hält und meint, er könne jeden
Augenblick einen anderen Lebenswandel anfangen, welches heißt,
ein anderer werden. Allem, a posteriori, durch die Erfahrung findet er zu
seinem Erstaunen, daß er nicht frei ist, sondern der Notwendigkeit unterworfen
ist. daß er, aller Vorsätze und Reflationen ungeachtet, sein Tun nicht ändert
und vom Anfang seines Lebens bis zum Ende denselben von ihm selbst ge¬
mißbilligten Charakter durchführen und gleichsam die übernommene Rolle bis
zu Ende spielen muß."

Es kann auch der Politik des Tages nur nützlich sein, fie gelegentlich
einmal von einer derartig hohen Warte der philosophischen Erkenntnis aus zu
betrachten. Zu Beginn des Krieges, in der ersten Zeit der hochquellenden Be¬
geisterung jener wunderbaren Augusttage des Jahres 1914 hatten wir alle
uns mit dem Kanzler das feste Versprechen gegeben, uns auf dem Gebiete der
Politik von jeder "Sentimentalität" im politischen Leben freizuhalten und der
deutschen Neigung, alles Fremdartige zu bewundern und nachzuahmen, abzu¬
schwören. Die Folge aber hat gezeigt, das wir dazu nicht fähig find, daß
das fremde Vorbild auf viele von uns seine alte Anziehungskraft ausübt und
daß wir in den Sentimentalitäten, wie unter anderem der Haßgesang gegen
England vom Jahre 1914 beweist, wieder mitten drin find, ja vielleicht ist
die Abschwörung jener Sentimentalität die erste Sentimentalität gewesen, weil
wir ja nicht erst nötig gehabt hätten, uns so feierlich von ihr loszusagen, wenn
wir fie tatsächlich im Innern überwunden hätten. Das hat man in England,
wo man in der Politik keine Sentimentalität kennt, auch längst richtig erkannt
und in diesem Rüttlischwur nur einen Beweis dafür erblickt, das in dieser


Grenzboten I 1917 26


Neue Ziele, neue Wege
Dr. H. Handle von

in zweiten Buche seines philosophischen Hauptwerkes „Die Welt
als Wille und Vorstellung" weist Schopenhauer auf die „wunder¬
liche Tatsache" hin. „daß jeder a priori sich als ganz frei auch
in seinen einzelnen Handlungen hält und meint, er könne jeden
Augenblick einen anderen Lebenswandel anfangen, welches heißt,
ein anderer werden. Allem, a posteriori, durch die Erfahrung findet er zu
seinem Erstaunen, daß er nicht frei ist, sondern der Notwendigkeit unterworfen
ist. daß er, aller Vorsätze und Reflationen ungeachtet, sein Tun nicht ändert
und vom Anfang seines Lebens bis zum Ende denselben von ihm selbst ge¬
mißbilligten Charakter durchführen und gleichsam die übernommene Rolle bis
zu Ende spielen muß."

Es kann auch der Politik des Tages nur nützlich sein, fie gelegentlich
einmal von einer derartig hohen Warte der philosophischen Erkenntnis aus zu
betrachten. Zu Beginn des Krieges, in der ersten Zeit der hochquellenden Be¬
geisterung jener wunderbaren Augusttage des Jahres 1914 hatten wir alle
uns mit dem Kanzler das feste Versprechen gegeben, uns auf dem Gebiete der
Politik von jeder „Sentimentalität" im politischen Leben freizuhalten und der
deutschen Neigung, alles Fremdartige zu bewundern und nachzuahmen, abzu¬
schwören. Die Folge aber hat gezeigt, das wir dazu nicht fähig find, daß
das fremde Vorbild auf viele von uns seine alte Anziehungskraft ausübt und
daß wir in den Sentimentalitäten, wie unter anderem der Haßgesang gegen
England vom Jahre 1914 beweist, wieder mitten drin find, ja vielleicht ist
die Abschwörung jener Sentimentalität die erste Sentimentalität gewesen, weil
wir ja nicht erst nötig gehabt hätten, uns so feierlich von ihr loszusagen, wenn
wir fie tatsächlich im Innern überwunden hätten. Das hat man in England,
wo man in der Politik keine Sentimentalität kennt, auch längst richtig erkannt
und in diesem Rüttlischwur nur einen Beweis dafür erblickt, das in dieser


Grenzboten I 1917 26
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[0397] [Abbildung] Neue Ziele, neue Wege Dr. H. Handle von in zweiten Buche seines philosophischen Hauptwerkes „Die Welt als Wille und Vorstellung" weist Schopenhauer auf die „wunder¬ liche Tatsache" hin. „daß jeder a priori sich als ganz frei auch in seinen einzelnen Handlungen hält und meint, er könne jeden Augenblick einen anderen Lebenswandel anfangen, welches heißt, ein anderer werden. Allem, a posteriori, durch die Erfahrung findet er zu seinem Erstaunen, daß er nicht frei ist, sondern der Notwendigkeit unterworfen ist. daß er, aller Vorsätze und Reflationen ungeachtet, sein Tun nicht ändert und vom Anfang seines Lebens bis zum Ende denselben von ihm selbst ge¬ mißbilligten Charakter durchführen und gleichsam die übernommene Rolle bis zu Ende spielen muß." Es kann auch der Politik des Tages nur nützlich sein, fie gelegentlich einmal von einer derartig hohen Warte der philosophischen Erkenntnis aus zu betrachten. Zu Beginn des Krieges, in der ersten Zeit der hochquellenden Be¬ geisterung jener wunderbaren Augusttage des Jahres 1914 hatten wir alle uns mit dem Kanzler das feste Versprechen gegeben, uns auf dem Gebiete der Politik von jeder „Sentimentalität" im politischen Leben freizuhalten und der deutschen Neigung, alles Fremdartige zu bewundern und nachzuahmen, abzu¬ schwören. Die Folge aber hat gezeigt, das wir dazu nicht fähig find, daß das fremde Vorbild auf viele von uns seine alte Anziehungskraft ausübt und daß wir in den Sentimentalitäten, wie unter anderem der Haßgesang gegen England vom Jahre 1914 beweist, wieder mitten drin find, ja vielleicht ist die Abschwörung jener Sentimentalität die erste Sentimentalität gewesen, weil wir ja nicht erst nötig gehabt hätten, uns so feierlich von ihr loszusagen, wenn wir fie tatsächlich im Innern überwunden hätten. Das hat man in England, wo man in der Politik keine Sentimentalität kennt, auch längst richtig erkannt und in diesem Rüttlischwur nur einen Beweis dafür erblickt, das in dieser Grenzboten I 1917 26

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341905_331409/397>, abgerufen am 22.07.2024.