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Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Erstes Vierteljahr.

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Zum Problem der Ukraina

Bei Mickiewicz (in den Dziady) sagt ein Kammerjunker: "Über Litauen,
wahrhaftig, weiß ich weniger als über China." Wissen wir Deutschen -- außer
wenigen -- von Litauen, von Osteuropa im allgemeinen und im besonderen von
der Ukraina mehr? Bis zum Kriegsbeginn war letztere, selbst der Name, den
meisten Deutschen unbekannt und Hekuba; nur von den Ruthenen Galiziens hatten
wir, wiegen der lebhaften und unablässigen Klagen ihrer Führer, die wir seit
Jahrzehnten mit halbem Ohr und ohne inneren Anteil anhörten, auch Wohl oft
genug als lästig empfanden, eine ungefähre Kenntnis. Seit Beginn des Welt¬
krieges ist unser Interesse an der ganzen Ukraina, auch am russischen Anteil und
an seinen Bewohnern, erfreulicherweise in stetem Wachsen; an dem Lande sowohl,
das das weite Gebiet von den Karpathen bis zum Kaukasus umfaßt, als auch
an dem Volke, das mit seinen 36 Millionen Köpfen das sechstzahlreichste Europas
ist. Dieses Interesse dauernd wach zu erhalten und unsere Wißbegierde zu be¬
friedigen, find Gelehrte und Publizisten der Ukrainer unermüdlich tätig; sie sind
sich des furchtbaren Ernstes der Situation bewußt; sie wissen, daß sie in kürzester
Frist die öffentliche Meinung Deutschlands für die gute Sache ihres Volkes, das
jetzt oder nie frei wird, gewinnen und uns überzeugen müssen, daß wir, was
wir für sie tun, auch zu unserem Vorteil tun, daß wir die russische Gefahr nur
dann dauernd bannen werden, wenn wir die "Fremdvölker" des Zarenreiches,
vor allem das zahlreichste, die Ukrainer, aus dem Joch des seelenmordenden
Moskau loslösen und ihnen, unter Anlehnung an Mitteleuropa, ein menschen¬
würdiges Dasein sowie "die vollständige nationale Entwicklung in eigener Sprache
und nach eigenem Wesen" gewähren. Es kann und soll hier aus der Überfülle
der einschlägigen Literatur nur einiges, besonderer Beachtung würdiges hervor¬
gehoben und denen zum Studium empfohlen werden, die die Geschichte des
ukrainischen Volkes, die Geographie des ukrainischen Landes und den augenblick¬
lichen Stand der Bestrebungen zur Lösung des ukrainischen Problems kennen zu
lernen wünschen, um sich so zu eigenem Urteil zu befähigen. --

An erster Stelle sei hier die "Geschichte der Ukraina" von Michael Hruschewskyj
genannt. Der gelehrte Verfasser des gediegenen Werkes, der dem Lehrkörper der
Universität Lemberg als Professor der osteuropäischen Geschichte angehört, ist ein
durch seine wissenschaftlichen Leistungen legitimierter Fachmann und zugleich ein
in seinem Urteil unbestechlicher Forscher, der die Objektivität, die größte und not¬
wendigste Tugend des Historikers, stets und auch da übt, wo er von den Kämpfen
des eigenen Volkes gegen Großrussen, Litauer und Polen und von den Leiden
seiner unterdrückten Stammesgenossen spricht. Da er die gewaltige Stoffmengs




Neue Bücher
Zum Problem der Ukraina

Bei Mickiewicz (in den Dziady) sagt ein Kammerjunker: „Über Litauen,
wahrhaftig, weiß ich weniger als über China." Wissen wir Deutschen — außer
wenigen — von Litauen, von Osteuropa im allgemeinen und im besonderen von
der Ukraina mehr? Bis zum Kriegsbeginn war letztere, selbst der Name, den
meisten Deutschen unbekannt und Hekuba; nur von den Ruthenen Galiziens hatten
wir, wiegen der lebhaften und unablässigen Klagen ihrer Führer, die wir seit
Jahrzehnten mit halbem Ohr und ohne inneren Anteil anhörten, auch Wohl oft
genug als lästig empfanden, eine ungefähre Kenntnis. Seit Beginn des Welt¬
krieges ist unser Interesse an der ganzen Ukraina, auch am russischen Anteil und
an seinen Bewohnern, erfreulicherweise in stetem Wachsen; an dem Lande sowohl,
das das weite Gebiet von den Karpathen bis zum Kaukasus umfaßt, als auch
an dem Volke, das mit seinen 36 Millionen Köpfen das sechstzahlreichste Europas
ist. Dieses Interesse dauernd wach zu erhalten und unsere Wißbegierde zu be¬
friedigen, find Gelehrte und Publizisten der Ukrainer unermüdlich tätig; sie sind
sich des furchtbaren Ernstes der Situation bewußt; sie wissen, daß sie in kürzester
Frist die öffentliche Meinung Deutschlands für die gute Sache ihres Volkes, das
jetzt oder nie frei wird, gewinnen und uns überzeugen müssen, daß wir, was
wir für sie tun, auch zu unserem Vorteil tun, daß wir die russische Gefahr nur
dann dauernd bannen werden, wenn wir die „Fremdvölker" des Zarenreiches,
vor allem das zahlreichste, die Ukrainer, aus dem Joch des seelenmordenden
Moskau loslösen und ihnen, unter Anlehnung an Mitteleuropa, ein menschen¬
würdiges Dasein sowie „die vollständige nationale Entwicklung in eigener Sprache
und nach eigenem Wesen" gewähren. Es kann und soll hier aus der Überfülle
der einschlägigen Literatur nur einiges, besonderer Beachtung würdiges hervor¬
gehoben und denen zum Studium empfohlen werden, die die Geschichte des
ukrainischen Volkes, die Geographie des ukrainischen Landes und den augenblick¬
lichen Stand der Bestrebungen zur Lösung des ukrainischen Problems kennen zu
lernen wünschen, um sich so zu eigenem Urteil zu befähigen. —

An erster Stelle sei hier die „Geschichte der Ukraina" von Michael Hruschewskyj
genannt. Der gelehrte Verfasser des gediegenen Werkes, der dem Lehrkörper der
Universität Lemberg als Professor der osteuropäischen Geschichte angehört, ist ein
durch seine wissenschaftlichen Leistungen legitimierter Fachmann und zugleich ein
in seinem Urteil unbestechlicher Forscher, der die Objektivität, die größte und not¬
wendigste Tugend des Historikers, stets und auch da übt, wo er von den Kämpfen
des eigenen Volkes gegen Großrussen, Litauer und Polen und von den Leiden
seiner unterdrückten Stammesgenossen spricht. Da er die gewaltige Stoffmengs


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341905_331409/392>, abgerufen am 22.07.2024.