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Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Erstes Vierteljahr.

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Die verdienstvolle Sammlung der "Märchen der Weltliteratur", die Friedrich
von der seyen und Paul Zaunert im Verlage von Eugen Diedsrichs in Jena
herausgeben, ist neuerdings um zwei Bände von ganz eigenem Reiz und von
besonders hohem, wissenschaftlichem Werte erweitert worden. Unter dem Titel
"Südseemärchen" sammelt Paul Hambruch eine große Anzahl von Erzählungen
recht verschiedener Art, die er teils selber gesammelt, teils älteren Werken und
Beschreibungen der australischen und melanesischen, mikronesischen und polynesischen
Eingeborenen entnommen hat; wir finden sogenannte ätiologische Sagen, d. h.
phantastische Antworten auf allerlei Fragen aus dem Reichs der Natur (z. B.
"Woher der Frost kommt" oder "Warum der Kasuar keine Flügel hat"), Geister¬
geschichten und eine große Anzahl von kleinen Novellen, alles treu übersetzt bis
auf einige Natürlichkeiten im Ausdruck, die gemildert wurden. Eine liebevoll ein¬
gehende Einleitung, Anmerkungen und zahlreiche, zum Teil vortreffliche Abbildungen
geben dem Leser eine reichliche Erläuterung, deren er hier vielleicht mehr bedarf,
als bei irgend einem andern Bande der Sammlung. Denn so viel die "Märchen"
der Südsee nach ihrem Aufbau, ihrem Stil und bisweilen nach einzelnen Motiven
mit unsern gemein zu haben scheinen, im Grunde bilden sie doch eine Welt
für sich.

Ganz anders die "neugriechischen Märchen", die uns einer unserer hervor¬
ragendsten Sprach- und Volksforscher, Professor Paul Kretschmer in Wien als
hochwillkommene Gabe auf den Weihnachtstisch legte, und die ebenfalls zum guten
Teil auf eigenen Sammlungen beruhen. Die Übersetzungen folgen nicht bloß dem
Gang der Handlung, sondern den leisen Schwankungen des Stils, der Neigung
der Erzähler zum Formelhaften und den feinsten Abschattungen der Stimmung
mit philologischer Genauigkeit und mit künstlerischem Zartgefühl, ohne falsche
Scham und ohne die geringste Effekthascherei. Diese Märchen stehen im engsten
Zusammenhang mit dem Erzählungsschatze der vorderasiatischen und der europäischen
Völker, und der Herausgeber weist mit der ihm eigenen Belesenheit Nummer für
Nummer auf die wichtigsten, bekannten Typen hin ; er gibt auch dem vergleichenden
Forscher die nötigen Hinweise auf die einschlägige Literatur, vor allem auf die
unerschöpfliche Neubearbeitung der Anmerkungen zu den Grimmschen Märchen von
Bolle und Polivka. (Leipzig, Dieterich-Weichex). Dabei werden einzelne Aus¬
drücke und Wendungen erklärt, die Gewährsleute genannt und, was in älteren
Sammlungen meist versäumt wurde, die im Volk lebenden Titel der einzelnen
Geschichten aufgeführt. Kulturgeschichtlich fesselnd ist die Einleitung, die sich vor




Neue Bücher

Die verdienstvolle Sammlung der „Märchen der Weltliteratur", die Friedrich
von der seyen und Paul Zaunert im Verlage von Eugen Diedsrichs in Jena
herausgeben, ist neuerdings um zwei Bände von ganz eigenem Reiz und von
besonders hohem, wissenschaftlichem Werte erweitert worden. Unter dem Titel
„Südseemärchen" sammelt Paul Hambruch eine große Anzahl von Erzählungen
recht verschiedener Art, die er teils selber gesammelt, teils älteren Werken und
Beschreibungen der australischen und melanesischen, mikronesischen und polynesischen
Eingeborenen entnommen hat; wir finden sogenannte ätiologische Sagen, d. h.
phantastische Antworten auf allerlei Fragen aus dem Reichs der Natur (z. B.
„Woher der Frost kommt" oder „Warum der Kasuar keine Flügel hat"), Geister¬
geschichten und eine große Anzahl von kleinen Novellen, alles treu übersetzt bis
auf einige Natürlichkeiten im Ausdruck, die gemildert wurden. Eine liebevoll ein¬
gehende Einleitung, Anmerkungen und zahlreiche, zum Teil vortreffliche Abbildungen
geben dem Leser eine reichliche Erläuterung, deren er hier vielleicht mehr bedarf,
als bei irgend einem andern Bande der Sammlung. Denn so viel die „Märchen"
der Südsee nach ihrem Aufbau, ihrem Stil und bisweilen nach einzelnen Motiven
mit unsern gemein zu haben scheinen, im Grunde bilden sie doch eine Welt
für sich.

Ganz anders die „neugriechischen Märchen", die uns einer unserer hervor¬
ragendsten Sprach- und Volksforscher, Professor Paul Kretschmer in Wien als
hochwillkommene Gabe auf den Weihnachtstisch legte, und die ebenfalls zum guten
Teil auf eigenen Sammlungen beruhen. Die Übersetzungen folgen nicht bloß dem
Gang der Handlung, sondern den leisen Schwankungen des Stils, der Neigung
der Erzähler zum Formelhaften und den feinsten Abschattungen der Stimmung
mit philologischer Genauigkeit und mit künstlerischem Zartgefühl, ohne falsche
Scham und ohne die geringste Effekthascherei. Diese Märchen stehen im engsten
Zusammenhang mit dem Erzählungsschatze der vorderasiatischen und der europäischen
Völker, und der Herausgeber weist mit der ihm eigenen Belesenheit Nummer für
Nummer auf die wichtigsten, bekannten Typen hin ; er gibt auch dem vergleichenden
Forscher die nötigen Hinweise auf die einschlägige Literatur, vor allem auf die
unerschöpfliche Neubearbeitung der Anmerkungen zu den Grimmschen Märchen von
Bolle und Polivka. (Leipzig, Dieterich-Weichex). Dabei werden einzelne Aus¬
drücke und Wendungen erklärt, die Gewährsleute genannt und, was in älteren
Sammlungen meist versäumt wurde, die im Volk lebenden Titel der einzelnen
Geschichten aufgeführt. Kulturgeschichtlich fesselnd ist die Einleitung, die sich vor


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341905_331409/235>, abgerufen am 22.07.2024.