Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite


Von der Times, der Diktatur und andern Dingen

<?^DGle Moskaner liberale, sehr englandfreundliche Zeitung "Rußkija
Wedomosti" brachte unter obigem Titel Ende Dezember einen
Aufsatz ihres Londoner Berichterstatters, Wladimir Giabotinski,
I der einerseits das Verhalten der englischen Gesellschaft zum Kriege
tho treffend charakterisiert, anderseits so wohltuend von der sonst
üblichen Englandsverhimmelung der russischen Presse absticht, daß er vielleicht
auch deutsche Leser interessieren dürfte. Wir geben ihn hier mit geringfügigen
Kürzungen wieder.

"Heute also hat sich ein Ereignis begeben, von dem die Welt natürlich
schon durch den Draht und drahtlos in Kenntnis gesetzt worden ist: die "Times"
wird fortan 1^/2 Penny kosten und nicht mehr einen, wie früher. England
hat dieser Umwälzung all die Aufmerksamkeit gewidmet, deren sie wert ist.
In diesem Lande ist alles, womit man in Berührung kommt, kein bloßes
Ding, sondern eine "Institution"; jede Straßenlaterne hat ihre Geschichte, und
wenn sie repariert werden soll, so entsteht daraus eine ganze "Frage". Und
die "Times" ist natürlich eine hoch über allen sonstigen Institutionen stehende
Institution. Der Preis von einem Penny für die Einzelnummer stammt zwar
nicht aus sehr entlegener Zeit, aber da bei dem hiesigen Klima alles, was
existiert, alsbald mit einem ehrwürdigen Schimmel von Tradition und Geschichte
bewachst, so wurde auch diese Reform mit aller gebührenden Vorsicht durch¬
geführt. Die "Times" selbst brachte im Laufe einer ganzen Woche täglich
auf ihrer ersten Seite, mitten unter sonstigen Kriegsnachrichten, kleine Be¬
trachtungen über die Gerechtigkeit und Notwendigkeit dieser "Neuorientierung".
Die übrige Presse kam dem kühnen Plane mit Aufmerksamkeit und Ehrerbietung
entgegen -- einige Zeitungen widmeten ihm sogar Leitartikel. Und heute ist
die Reform endlich Tatsache geworden.

Bekanntlich ist die Lektüre der "Times" eine ganze Wissenschaft. Jede
Nummer faßt gegenwärtig 16 Seiten -- die Beilagen nicht mitgerechnet.

Wenn man am Morgen die Zeitung erhält, muß man die Lektüre nicht
mit der ersten Seite, sondern von der Mitte aus anfangen. Die wichtigsten
Seiten sind 8 und 9. Auf Seite 8 befinden sich eine Übersicht der Tages¬
ereignisse, die wichtigsten Depeschen, und -- anderthalb Spalten Theater¬
anzeigen. Seite 9 beginnt mit zwei oder drei Leitartikeln, dann kommen
Parlamentsnachrichten und die bemerkenswertesten Zuschriften an die Redaktion.




Von der Times, der Diktatur und andern Dingen

<?^DGle Moskaner liberale, sehr englandfreundliche Zeitung „Rußkija
Wedomosti" brachte unter obigem Titel Ende Dezember einen
Aufsatz ihres Londoner Berichterstatters, Wladimir Giabotinski,
I der einerseits das Verhalten der englischen Gesellschaft zum Kriege
tho treffend charakterisiert, anderseits so wohltuend von der sonst
üblichen Englandsverhimmelung der russischen Presse absticht, daß er vielleicht
auch deutsche Leser interessieren dürfte. Wir geben ihn hier mit geringfügigen
Kürzungen wieder.

„Heute also hat sich ein Ereignis begeben, von dem die Welt natürlich
schon durch den Draht und drahtlos in Kenntnis gesetzt worden ist: die „Times"
wird fortan 1^/2 Penny kosten und nicht mehr einen, wie früher. England
hat dieser Umwälzung all die Aufmerksamkeit gewidmet, deren sie wert ist.
In diesem Lande ist alles, womit man in Berührung kommt, kein bloßes
Ding, sondern eine „Institution"; jede Straßenlaterne hat ihre Geschichte, und
wenn sie repariert werden soll, so entsteht daraus eine ganze „Frage". Und
die „Times" ist natürlich eine hoch über allen sonstigen Institutionen stehende
Institution. Der Preis von einem Penny für die Einzelnummer stammt zwar
nicht aus sehr entlegener Zeit, aber da bei dem hiesigen Klima alles, was
existiert, alsbald mit einem ehrwürdigen Schimmel von Tradition und Geschichte
bewachst, so wurde auch diese Reform mit aller gebührenden Vorsicht durch¬
geführt. Die „Times" selbst brachte im Laufe einer ganzen Woche täglich
auf ihrer ersten Seite, mitten unter sonstigen Kriegsnachrichten, kleine Be¬
trachtungen über die Gerechtigkeit und Notwendigkeit dieser „Neuorientierung".
Die übrige Presse kam dem kühnen Plane mit Aufmerksamkeit und Ehrerbietung
entgegen — einige Zeitungen widmeten ihm sogar Leitartikel. Und heute ist
die Reform endlich Tatsache geworden.

Bekanntlich ist die Lektüre der „Times" eine ganze Wissenschaft. Jede
Nummer faßt gegenwärtig 16 Seiten — die Beilagen nicht mitgerechnet.

Wenn man am Morgen die Zeitung erhält, muß man die Lektüre nicht
mit der ersten Seite, sondern von der Mitte aus anfangen. Die wichtigsten
Seiten sind 8 und 9. Auf Seite 8 befinden sich eine Übersicht der Tages¬
ereignisse, die wichtigsten Depeschen, und — anderthalb Spalten Theater¬
anzeigen. Seite 9 beginnt mit zwei oder drei Leitartikeln, dann kommen
Parlamentsnachrichten und die bemerkenswertesten Zuschriften an die Redaktion.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0161" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/331569"/>
          <figure facs="http://media.dwds.de/dta/images/grenzboten_341905_331409/figures/grenzboten_341905_331409_331569_000.jpg"/><lb/>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Von der Times, der Diktatur und andern Dingen</head><lb/>
          <p xml:id="ID_497"> &lt;?^DGle Moskaner liberale, sehr englandfreundliche Zeitung &#x201E;Rußkija<lb/>
Wedomosti" brachte unter obigem Titel Ende Dezember einen<lb/>
Aufsatz ihres Londoner Berichterstatters, Wladimir Giabotinski,<lb/>
I der einerseits das Verhalten der englischen Gesellschaft zum Kriege<lb/>
tho treffend charakterisiert, anderseits so wohltuend von der sonst<lb/>
üblichen Englandsverhimmelung der russischen Presse absticht, daß er vielleicht<lb/>
auch deutsche Leser interessieren dürfte. Wir geben ihn hier mit geringfügigen<lb/>
Kürzungen wieder.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_498"> &#x201E;Heute also hat sich ein Ereignis begeben, von dem die Welt natürlich<lb/>
schon durch den Draht und drahtlos in Kenntnis gesetzt worden ist: die &#x201E;Times"<lb/>
wird fortan 1^/2 Penny kosten und nicht mehr einen, wie früher. England<lb/>
hat dieser Umwälzung all die Aufmerksamkeit gewidmet, deren sie wert ist.<lb/>
In diesem Lande ist alles, womit man in Berührung kommt, kein bloßes<lb/>
Ding, sondern eine &#x201E;Institution"; jede Straßenlaterne hat ihre Geschichte, und<lb/>
wenn sie repariert werden soll, so entsteht daraus eine ganze &#x201E;Frage". Und<lb/>
die &#x201E;Times" ist natürlich eine hoch über allen sonstigen Institutionen stehende<lb/>
Institution. Der Preis von einem Penny für die Einzelnummer stammt zwar<lb/>
nicht aus sehr entlegener Zeit, aber da bei dem hiesigen Klima alles, was<lb/>
existiert, alsbald mit einem ehrwürdigen Schimmel von Tradition und Geschichte<lb/>
bewachst, so wurde auch diese Reform mit aller gebührenden Vorsicht durch¬<lb/>
geführt. Die &#x201E;Times" selbst brachte im Laufe einer ganzen Woche täglich<lb/>
auf ihrer ersten Seite, mitten unter sonstigen Kriegsnachrichten, kleine Be¬<lb/>
trachtungen über die Gerechtigkeit und Notwendigkeit dieser &#x201E;Neuorientierung".<lb/>
Die übrige Presse kam dem kühnen Plane mit Aufmerksamkeit und Ehrerbietung<lb/>
entgegen &#x2014; einige Zeitungen widmeten ihm sogar Leitartikel. Und heute ist<lb/>
die Reform endlich Tatsache geworden.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_499"> Bekanntlich ist die Lektüre der &#x201E;Times" eine ganze Wissenschaft. Jede<lb/>
Nummer faßt gegenwärtig 16 Seiten &#x2014; die Beilagen nicht mitgerechnet.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_500" next="#ID_501"> Wenn man am Morgen die Zeitung erhält, muß man die Lektüre nicht<lb/>
mit der ersten Seite, sondern von der Mitte aus anfangen. Die wichtigsten<lb/>
Seiten sind 8 und 9. Auf Seite 8 befinden sich eine Übersicht der Tages¬<lb/>
ereignisse, die wichtigsten Depeschen, und &#x2014; anderthalb Spalten Theater¬<lb/>
anzeigen. Seite 9 beginnt mit zwei oder drei Leitartikeln, dann kommen<lb/>
Parlamentsnachrichten und die bemerkenswertesten Zuschriften an die Redaktion.</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0161] [Abbildung] Von der Times, der Diktatur und andern Dingen <?^DGle Moskaner liberale, sehr englandfreundliche Zeitung „Rußkija Wedomosti" brachte unter obigem Titel Ende Dezember einen Aufsatz ihres Londoner Berichterstatters, Wladimir Giabotinski, I der einerseits das Verhalten der englischen Gesellschaft zum Kriege tho treffend charakterisiert, anderseits so wohltuend von der sonst üblichen Englandsverhimmelung der russischen Presse absticht, daß er vielleicht auch deutsche Leser interessieren dürfte. Wir geben ihn hier mit geringfügigen Kürzungen wieder. „Heute also hat sich ein Ereignis begeben, von dem die Welt natürlich schon durch den Draht und drahtlos in Kenntnis gesetzt worden ist: die „Times" wird fortan 1^/2 Penny kosten und nicht mehr einen, wie früher. England hat dieser Umwälzung all die Aufmerksamkeit gewidmet, deren sie wert ist. In diesem Lande ist alles, womit man in Berührung kommt, kein bloßes Ding, sondern eine „Institution"; jede Straßenlaterne hat ihre Geschichte, und wenn sie repariert werden soll, so entsteht daraus eine ganze „Frage". Und die „Times" ist natürlich eine hoch über allen sonstigen Institutionen stehende Institution. Der Preis von einem Penny für die Einzelnummer stammt zwar nicht aus sehr entlegener Zeit, aber da bei dem hiesigen Klima alles, was existiert, alsbald mit einem ehrwürdigen Schimmel von Tradition und Geschichte bewachst, so wurde auch diese Reform mit aller gebührenden Vorsicht durch¬ geführt. Die „Times" selbst brachte im Laufe einer ganzen Woche täglich auf ihrer ersten Seite, mitten unter sonstigen Kriegsnachrichten, kleine Be¬ trachtungen über die Gerechtigkeit und Notwendigkeit dieser „Neuorientierung". Die übrige Presse kam dem kühnen Plane mit Aufmerksamkeit und Ehrerbietung entgegen — einige Zeitungen widmeten ihm sogar Leitartikel. Und heute ist die Reform endlich Tatsache geworden. Bekanntlich ist die Lektüre der „Times" eine ganze Wissenschaft. Jede Nummer faßt gegenwärtig 16 Seiten — die Beilagen nicht mitgerechnet. Wenn man am Morgen die Zeitung erhält, muß man die Lektüre nicht mit der ersten Seite, sondern von der Mitte aus anfangen. Die wichtigsten Seiten sind 8 und 9. Auf Seite 8 befinden sich eine Übersicht der Tages¬ ereignisse, die wichtigsten Depeschen, und — anderthalb Spalten Theater¬ anzeigen. Seite 9 beginnt mit zwei oder drei Leitartikeln, dann kommen Parlamentsnachrichten und die bemerkenswertesten Zuschriften an die Redaktion.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341905_331409
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341905_331409/161
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341905_331409/161>, abgerufen am 22.07.2024.