Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Viertes Vierteljahr.Rultur und Sprache Bis auf einige wenige Vorkommnisse in Süddeutschland, wo man in er¬ Die in jeder Beziehung günstige Ernte des Jahres 1817 machte aller Aultur und Sprache von Professor Dr. Alfred Götze prachwissenschaft ist Kulturwissenschaft. sprachlich wird bezeichnet Ein Beispiel aus der einfachsten sinnlichen Umwelt des Deutschen mag den Rultur und Sprache Bis auf einige wenige Vorkommnisse in Süddeutschland, wo man in er¬ Die in jeder Beziehung günstige Ernte des Jahres 1817 machte aller Aultur und Sprache von Professor Dr. Alfred Götze prachwissenschaft ist Kulturwissenschaft. sprachlich wird bezeichnet Ein Beispiel aus der einfachsten sinnlichen Umwelt des Deutschen mag den <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0355" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/331327"/> <fw type="header" place="top"> Rultur und Sprache</fw><lb/> <p xml:id="ID_1271"> Bis auf einige wenige Vorkommnisse in Süddeutschland, wo man in er¬<lb/> regter Weise gegen eine Kornausfuhr nach der Schweiz protestierte, ist es an¬<lb/> scheinend nirgends in Deutschland zu Unruhen gekommen. Die Ruhe und Be¬<lb/> sonnenheit des Deutschen fand sich nach Möglichkeit mit den schwierigen Ver¬<lb/> hältnissen ab. In England und Frankreich besonders kam es wiederholt zu<lb/> schweren Tumulten. Von London berichteten die Zeitungen schon im November<lb/> 1816, daß der Pöbel die Bäckerladen gestürmt habe. Noch schlimmere Vor¬<lb/> kommnisse spielten sich in Frankreich, in Toulouse und Rouen ab, wo die Volks¬<lb/> massen wiederholt die Getreidespeicher zerstörten, sodaß die Regierung Kavallerie<lb/> einschreiten lassen mußte.</p><lb/> <p xml:id="ID_1272"> Die in jeder Beziehung günstige Ernte des Jahres 1817 machte aller<lb/> Teuerung ein Ende. Die Getreidepreise sanken, erst langsam, dann schneller,<lb/> bis sie 1823 den für lange Zeit niedrigsten Preis erreichten und alles Elend<lb/> und alle ausgestandene Not vergessen ließen.</p><lb/> <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> </div> <div n="1"> <head> Aultur und Sprache<lb/><note type="byline"> von Professor Dr. Alfred Götze</note></head><lb/> <p xml:id="ID_1273"> prachwissenschaft ist Kulturwissenschaft. sprachlich wird bezeichnet<lb/> nur was sachlich vorhanden ist, für den gesamten Kulturbesitz eines<lb/> Volkes ist ausreichende Deckung in seiner Sprache unerläßlich.<lb/> Beide Kräfte, Kultur und Sprache, stehen nicht still, sondern leben in<lb/> beständigem Fortwachsen. Da Gründe und Wesen ihres Wachstums<lb/> verschiedenartig sind, geraten sie immer aufs neue in Spannung gegeneinander.<lb/> Jeden Tag entstehen neue Kulturgüter, für die zunächst sprachlich keine Deckung<lb/> vorhanden ist. Wie vollzieht sich hier der notwendige Ausgleich?</p><lb/> <p xml:id="ID_1274" next="#ID_1275"> Ein Beispiel aus der einfachsten sinnlichen Umwelt des Deutschen mag den<lb/> Vorgang erläutern. Das germanische Haus hat keinen Schornstein, die alte<lb/> deutsche Sprache konnte demgemäß keinen Namen dafür haben. Wie sich später<lb/> mit der Sache die Notwendigkeit einer Benennung ergab, half man sich auf<lb/> dreierlei Weisen. Von den Römern lernten die Deutschen den Kamin kennen,<lb/> das lateinische Wort caminus wurde in althochdeutscher Zeit entlehnt und ist<lb/> Zur Herrschaft gelangt in dem Bereich, den lateinische Lehnwörter dieser Zeit<lb/> in durchdringen pflegten: in allen oberdeutschen Mundarten bis Tirol und<lb/> Schlesien im Osten, bis Luxemburg und zur Main—Eger-Linie im Norden.<lb/> Durch Bedeutungswandel wurde aus dem Schürstein (altnordisch sKorLteinn)<lb/> des germanischen Nauchhauses, auf dem das Feuer entzündet und geschürt wurde,<lb/> der Schornstein, durch den der Rauch abziehen konnte. Dieses Wort gilt in</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0355]
Rultur und Sprache
Bis auf einige wenige Vorkommnisse in Süddeutschland, wo man in er¬
regter Weise gegen eine Kornausfuhr nach der Schweiz protestierte, ist es an¬
scheinend nirgends in Deutschland zu Unruhen gekommen. Die Ruhe und Be¬
sonnenheit des Deutschen fand sich nach Möglichkeit mit den schwierigen Ver¬
hältnissen ab. In England und Frankreich besonders kam es wiederholt zu
schweren Tumulten. Von London berichteten die Zeitungen schon im November
1816, daß der Pöbel die Bäckerladen gestürmt habe. Noch schlimmere Vor¬
kommnisse spielten sich in Frankreich, in Toulouse und Rouen ab, wo die Volks¬
massen wiederholt die Getreidespeicher zerstörten, sodaß die Regierung Kavallerie
einschreiten lassen mußte.
Die in jeder Beziehung günstige Ernte des Jahres 1817 machte aller
Teuerung ein Ende. Die Getreidepreise sanken, erst langsam, dann schneller,
bis sie 1823 den für lange Zeit niedrigsten Preis erreichten und alles Elend
und alle ausgestandene Not vergessen ließen.
Aultur und Sprache
von Professor Dr. Alfred Götze
prachwissenschaft ist Kulturwissenschaft. sprachlich wird bezeichnet
nur was sachlich vorhanden ist, für den gesamten Kulturbesitz eines
Volkes ist ausreichende Deckung in seiner Sprache unerläßlich.
Beide Kräfte, Kultur und Sprache, stehen nicht still, sondern leben in
beständigem Fortwachsen. Da Gründe und Wesen ihres Wachstums
verschiedenartig sind, geraten sie immer aufs neue in Spannung gegeneinander.
Jeden Tag entstehen neue Kulturgüter, für die zunächst sprachlich keine Deckung
vorhanden ist. Wie vollzieht sich hier der notwendige Ausgleich?
Ein Beispiel aus der einfachsten sinnlichen Umwelt des Deutschen mag den
Vorgang erläutern. Das germanische Haus hat keinen Schornstein, die alte
deutsche Sprache konnte demgemäß keinen Namen dafür haben. Wie sich später
mit der Sache die Notwendigkeit einer Benennung ergab, half man sich auf
dreierlei Weisen. Von den Römern lernten die Deutschen den Kamin kennen,
das lateinische Wort caminus wurde in althochdeutscher Zeit entlehnt und ist
Zur Herrschaft gelangt in dem Bereich, den lateinische Lehnwörter dieser Zeit
in durchdringen pflegten: in allen oberdeutschen Mundarten bis Tirol und
Schlesien im Osten, bis Luxemburg und zur Main—Eger-Linie im Norden.
Durch Bedeutungswandel wurde aus dem Schürstein (altnordisch sKorLteinn)
des germanischen Nauchhauses, auf dem das Feuer entzündet und geschürt wurde,
der Schornstein, durch den der Rauch abziehen konnte. Dieses Wort gilt in
Informationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.
Weitere Informationen:Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur. Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (ꝛ): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja; Nachkorrektur erfolgte automatisch.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2025 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |