Die Großmutter ist sehr groß und hat einen weichen Körper, ist nicht derb, nicht knöcherig. Der Großvater ist klein, derb, spitzig, wie eine Fischgräte, und dennoch hat er eine sehr große verschluckt, ihn selbst aber wird nie¬ mand verschlucken, ohne zu ersticken.
Die Großmutter ist grenzenlos und unpersönlich. Der Umfang des Gro߬ vaters ist eng, er ist aber eine Person, allerdings eine halbtierische, aber doch eine Person, Keim einer Persönlichkeit.
In der Großmutter ist "etwas von Dionys", in dem Großvater "etwas von Apollo". Die Großmutter ist betrunken, der Großvater nüchtern.
Die Großmutter macht Rußland unermeßlich, der Großvater mißt es, häuft es an, "sammelt", vielleicht in eine furchtbare Faust, aber ohne sie würde es zerfallen, auseinandergehen, wie ein mit Hefe angerührter Teig aus dem Backtrog.
Und überhaupt, wenn in Rußland nur die Großmutter ohne den Gro߬ vater wäre, so würden nicht Polowzer, Mongolen, Deutsche, sondern die eigene heimatliche Fäulnis das "heilige Rußland" lebendig verzehren.
Die Großmutter ist das alte Rußland, das nach Osten gewendet ist. der Großvater ist das neue Nußland, das nach Westen gewendet ist. Die Gro߬ mutter ist ungelehrt; der Großvater halbgelehrt. Wenn aber Rußland jemals gelehrt sein wird, so hat es dies nicht der Großmutter, sondern dem Großvater zu verdanken.
Die Großmutter ist eine "Ketzerin, Freisinnige" in Worten, in der An¬ schauung, und in der Tat ist ihr "befohlen, zu dulden". Der Großvater ist vorläufig "rechtgläubig" und "selbstherrlich". Und er duldet auch, weil seine Arme zu kurz sind, um zu vergelten; wenn sie aber ausgewachsen sein werden, wird er nicht dulden. Und wenn überhaupt jemand in Rußland Aufruhr machen wird, so wird dies natürlich nicht die Großmutter sondern der Großvater sein.
"Halte Dich fest an der Großmutter" -- rät jemand dem Aljoscha. Gorki befolgte diesen Rat: er hält sich fest an der Großmutter, aber vielleicht noch fester am Großvater. Und wenn er als Eisen in das Feuer gegangen und als Stahl herausgekommen ist, so hat er dies nicht der Großmutter, sondern dem Großvater zu verdanken.
Der Großmutter Wahrheit, -- "das heilige Rußland" -- ist leicht zu begreifen: sie leuchtet strahlend. Des Großvaters Wahrheit -- "das unheilige Rußland" -- ist schwer zu begreifen: sie leuchtet kaum durch das tierische Antlitz hindurch. Weder Tolstoj noch Dostojewski haben sie begriffen, weil sie sie von der Seite, von außen betrachteten; Gorki hat sie begriffen, weil er sie von innen aus erblickte.
IV.
Von zwei Seelen Rußlands spricht die "Kindheit". Von demselben spricht auch ein Artikel, der von Gorki nicht zufällig fast gleichzeitig mit der "Kindheit" eben mit der Überschrift "Zwei Seelen" verfaßt wurde.
Wohin geht Rußland?
Die Großmutter ist sehr groß und hat einen weichen Körper, ist nicht derb, nicht knöcherig. Der Großvater ist klein, derb, spitzig, wie eine Fischgräte, und dennoch hat er eine sehr große verschluckt, ihn selbst aber wird nie¬ mand verschlucken, ohne zu ersticken.
Die Großmutter ist grenzenlos und unpersönlich. Der Umfang des Gro߬ vaters ist eng, er ist aber eine Person, allerdings eine halbtierische, aber doch eine Person, Keim einer Persönlichkeit.
In der Großmutter ist „etwas von Dionys", in dem Großvater „etwas von Apollo". Die Großmutter ist betrunken, der Großvater nüchtern.
Die Großmutter macht Rußland unermeßlich, der Großvater mißt es, häuft es an, „sammelt", vielleicht in eine furchtbare Faust, aber ohne sie würde es zerfallen, auseinandergehen, wie ein mit Hefe angerührter Teig aus dem Backtrog.
Und überhaupt, wenn in Rußland nur die Großmutter ohne den Gro߬ vater wäre, so würden nicht Polowzer, Mongolen, Deutsche, sondern die eigene heimatliche Fäulnis das „heilige Rußland" lebendig verzehren.
Die Großmutter ist das alte Rußland, das nach Osten gewendet ist. der Großvater ist das neue Nußland, das nach Westen gewendet ist. Die Gro߬ mutter ist ungelehrt; der Großvater halbgelehrt. Wenn aber Rußland jemals gelehrt sein wird, so hat es dies nicht der Großmutter, sondern dem Großvater zu verdanken.
Die Großmutter ist eine „Ketzerin, Freisinnige" in Worten, in der An¬ schauung, und in der Tat ist ihr „befohlen, zu dulden". Der Großvater ist vorläufig „rechtgläubig" und „selbstherrlich". Und er duldet auch, weil seine Arme zu kurz sind, um zu vergelten; wenn sie aber ausgewachsen sein werden, wird er nicht dulden. Und wenn überhaupt jemand in Rußland Aufruhr machen wird, so wird dies natürlich nicht die Großmutter sondern der Großvater sein.
„Halte Dich fest an der Großmutter" — rät jemand dem Aljoscha. Gorki befolgte diesen Rat: er hält sich fest an der Großmutter, aber vielleicht noch fester am Großvater. Und wenn er als Eisen in das Feuer gegangen und als Stahl herausgekommen ist, so hat er dies nicht der Großmutter, sondern dem Großvater zu verdanken.
Der Großmutter Wahrheit, — „das heilige Rußland" — ist leicht zu begreifen: sie leuchtet strahlend. Des Großvaters Wahrheit — „das unheilige Rußland" — ist schwer zu begreifen: sie leuchtet kaum durch das tierische Antlitz hindurch. Weder Tolstoj noch Dostojewski haben sie begriffen, weil sie sie von der Seite, von außen betrachteten; Gorki hat sie begriffen, weil er sie von innen aus erblickte.
IV.
Von zwei Seelen Rußlands spricht die „Kindheit". Von demselben spricht auch ein Artikel, der von Gorki nicht zufällig fast gleichzeitig mit der „Kindheit" eben mit der Überschrift „Zwei Seelen" verfaßt wurde.
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Wohin geht Rußland?
Die Großmutter ist sehr groß und hat einen weichen Körper, ist nicht
derb, nicht knöcherig. Der Großvater ist klein, derb, spitzig, wie eine Fischgräte,
und dennoch hat er eine sehr große verschluckt, ihn selbst aber wird nie¬
mand verschlucken, ohne zu ersticken.
Die Großmutter ist grenzenlos und unpersönlich. Der Umfang des Gro߬
vaters ist eng, er ist aber eine Person, allerdings eine halbtierische, aber doch
eine Person, Keim einer Persönlichkeit.
In der Großmutter ist „etwas von Dionys", in dem Großvater „etwas
von Apollo". Die Großmutter ist betrunken, der Großvater nüchtern.
Die Großmutter macht Rußland unermeßlich, der Großvater mißt es,
häuft es an, „sammelt", vielleicht in eine furchtbare Faust, aber ohne sie würde
es zerfallen, auseinandergehen, wie ein mit Hefe angerührter Teig aus dem
Backtrog.
Und überhaupt, wenn in Rußland nur die Großmutter ohne den Gro߬
vater wäre, so würden nicht Polowzer, Mongolen, Deutsche, sondern die eigene
heimatliche Fäulnis das „heilige Rußland" lebendig verzehren.
Die Großmutter ist das alte Rußland, das nach Osten gewendet ist. der
Großvater ist das neue Nußland, das nach Westen gewendet ist. Die Gro߬
mutter ist ungelehrt; der Großvater halbgelehrt. Wenn aber Rußland jemals
gelehrt sein wird, so hat es dies nicht der Großmutter, sondern dem Großvater
zu verdanken.
Die Großmutter ist eine „Ketzerin, Freisinnige" in Worten, in der An¬
schauung, und in der Tat ist ihr „befohlen, zu dulden". Der Großvater ist
vorläufig „rechtgläubig" und „selbstherrlich". Und er duldet auch, weil seine
Arme zu kurz sind, um zu vergelten; wenn sie aber ausgewachsen sein werden,
wird er nicht dulden. Und wenn überhaupt jemand in Rußland Aufruhr machen
wird, so wird dies natürlich nicht die Großmutter sondern der Großvater sein.
„Halte Dich fest an der Großmutter" — rät jemand dem Aljoscha.
Gorki befolgte diesen Rat: er hält sich fest an der Großmutter, aber vielleicht
noch fester am Großvater. Und wenn er als Eisen in das Feuer gegangen
und als Stahl herausgekommen ist, so hat er dies nicht der Großmutter, sondern
dem Großvater zu verdanken.
Der Großmutter Wahrheit, — „das heilige Rußland" — ist leicht zu
begreifen: sie leuchtet strahlend. Des Großvaters Wahrheit — „das unheilige
Rußland" — ist schwer zu begreifen: sie leuchtet kaum durch das tierische Antlitz
hindurch. Weder Tolstoj noch Dostojewski haben sie begriffen, weil sie sie von
der Seite, von außen betrachteten; Gorki hat sie begriffen, weil er sie von
innen aus erblickte.
IV.
Von zwei Seelen Rußlands spricht die „Kindheit". Von demselben spricht
auch ein Artikel, der von Gorki nicht zufällig fast gleichzeitig mit der „Kindheit"
eben mit der Überschrift „Zwei Seelen" verfaßt wurde.
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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330971/128>, abgerufen am 24.01.2025.
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