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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Viertes Vierteljahr.

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Stärke und Macht des Deutschtums in den baltischen Provinzen

sein. Endlich muß wieder hervorgehoben werden, daß die Altdeutschen einen un¬
organisierten, sich häufig untereinander grimmig befehdenden Haufen bilden,
während die Deutschen eine durch die mannigfachsten Bande in sich geschlossene
Masse darstellen, ferner daß sie durch den Zusammenhang mit dem deutschen
Mutterlande und vielfach durch die dort genossene Ausbildung den Berussver-
tretern der andern Nationalitäten durch ihre Arbeitsleistungen überlegen sind.
Die deutsche Bildung hat ebenso wie der deutsche Besitz seine herrschende
Stellung behauptet.

Für Livlands kleine Städte und Estland bin ich nicht in der Lage, ein
einigermaßen brauchbares Material beizubringen. Es sei bemerkt, daß die
Verhältnisse dort ähnlich sind, wenn man auch bei einer Zählung einen etwas
größeren Prozentsatz Letten in Livland erhalten würde.


Kirche und Wohltätigkeitsanstalten.

Neben der Ritter- und Landschaft und dem deutschen Verein ist die dritte
Hauptstütze des baltischen Deutschtums die protestantische Kirche gewesen. Hierbei
ist wieder das ideelle Moment zu betonen: das protestantische Bekenntnis ist ein
Band, das den einzelnen an deutscher Kultur und deutschen Kultureinflüssen festhält.
Man hat im Innern Rußlands die Erfahrung gemacht, daß Deutsche, die zur
griechisch-katholischen Kirche übertraten, ihrem Volkstum sofort verloren gingen.
Wie es keine griechisch-katholische deutsche Kirchengemeinschaft gibt, so gibt es
keine protestantisch russische. Deutsche und protestantische Kultur einerseits und
russische und griechisch-katholische Unkultur andrerseits decken sich. Auch der Leite
gilt daher im Innern Rußlands als Deutscher, weil er Protestant ist.

Diese protestantische Kirche ist nun, wie am Anfange dieses Aufsatzes ge¬
sagt wurde, tatsächlich die herrschende. Lutheraner gab es 1897 1908701
79,99 Prozent, Protestanten anderen Bekenntnisses (größten Teils Reformierte)
9790 - 0,41 Prozent der Bevölkerung, griechisch-katholische Christen 250 642
10,50 Prozent. Von diesen sind die meisten durch Landversprechungen in
der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts verlockte Konvertiten. Sie
sitzen hauptsächlich in bestimmten Gegenden Livlands, wo es 187 740 griechisch¬
katholische Christen gab. Daß jährlich Hunderte in den Schoß der protestantischen
Kirche zurückkehren, ist schon bemerkt worden.

Die protestantische Kirche ist eine von Deutschen beherrschte Institution.
In allen drei Konsistorien sind die weltlichen und geistlichen Beisitzer aus¬
schließlich Deutsche, auf den Synoden der drei Provinzen herrscht die deutsche
Majorität, wenn es in Livland auch mehr lettische Pastore als in Kurland
(siehe oben) gibt. Die Verhandlungs- und Geschäftssprache ist das Deutsche.
Nur die Kirchenbücher müssen seit 1890 in russischer Sprache geführt werden.
Daß diese Kirche mit dem deutschen Geistesleben in Fühlung geblieben ist,
beweist der in zahllosen Broschüren, Zeitungs- und Zeitschriftenartikeln und auf den
Synoden geführte Apostolikumstreit, der 1913/14 das ganze Baltikum tief erregte.


Stärke und Macht des Deutschtums in den baltischen Provinzen

sein. Endlich muß wieder hervorgehoben werden, daß die Altdeutschen einen un¬
organisierten, sich häufig untereinander grimmig befehdenden Haufen bilden,
während die Deutschen eine durch die mannigfachsten Bande in sich geschlossene
Masse darstellen, ferner daß sie durch den Zusammenhang mit dem deutschen
Mutterlande und vielfach durch die dort genossene Ausbildung den Berussver-
tretern der andern Nationalitäten durch ihre Arbeitsleistungen überlegen sind.
Die deutsche Bildung hat ebenso wie der deutsche Besitz seine herrschende
Stellung behauptet.

Für Livlands kleine Städte und Estland bin ich nicht in der Lage, ein
einigermaßen brauchbares Material beizubringen. Es sei bemerkt, daß die
Verhältnisse dort ähnlich sind, wenn man auch bei einer Zählung einen etwas
größeren Prozentsatz Letten in Livland erhalten würde.


Kirche und Wohltätigkeitsanstalten.

Neben der Ritter- und Landschaft und dem deutschen Verein ist die dritte
Hauptstütze des baltischen Deutschtums die protestantische Kirche gewesen. Hierbei
ist wieder das ideelle Moment zu betonen: das protestantische Bekenntnis ist ein
Band, das den einzelnen an deutscher Kultur und deutschen Kultureinflüssen festhält.
Man hat im Innern Rußlands die Erfahrung gemacht, daß Deutsche, die zur
griechisch-katholischen Kirche übertraten, ihrem Volkstum sofort verloren gingen.
Wie es keine griechisch-katholische deutsche Kirchengemeinschaft gibt, so gibt es
keine protestantisch russische. Deutsche und protestantische Kultur einerseits und
russische und griechisch-katholische Unkultur andrerseits decken sich. Auch der Leite
gilt daher im Innern Rußlands als Deutscher, weil er Protestant ist.

Diese protestantische Kirche ist nun, wie am Anfange dieses Aufsatzes ge¬
sagt wurde, tatsächlich die herrschende. Lutheraner gab es 1897 1908701
79,99 Prozent, Protestanten anderen Bekenntnisses (größten Teils Reformierte)
9790 - 0,41 Prozent der Bevölkerung, griechisch-katholische Christen 250 642
10,50 Prozent. Von diesen sind die meisten durch Landversprechungen in
der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts verlockte Konvertiten. Sie
sitzen hauptsächlich in bestimmten Gegenden Livlands, wo es 187 740 griechisch¬
katholische Christen gab. Daß jährlich Hunderte in den Schoß der protestantischen
Kirche zurückkehren, ist schon bemerkt worden.

Die protestantische Kirche ist eine von Deutschen beherrschte Institution.
In allen drei Konsistorien sind die weltlichen und geistlichen Beisitzer aus¬
schließlich Deutsche, auf den Synoden der drei Provinzen herrscht die deutsche
Majorität, wenn es in Livland auch mehr lettische Pastore als in Kurland
(siehe oben) gibt. Die Verhandlungs- und Geschäftssprache ist das Deutsche.
Nur die Kirchenbücher müssen seit 1890 in russischer Sprache geführt werden.
Daß diese Kirche mit dem deutschen Geistesleben in Fühlung geblieben ist,
beweist der in zahllosen Broschüren, Zeitungs- und Zeitschriftenartikeln und auf den
Synoden geführte Apostolikumstreit, der 1913/14 das ganze Baltikum tief erregte.


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[0354] Stärke und Macht des Deutschtums in den baltischen Provinzen sein. Endlich muß wieder hervorgehoben werden, daß die Altdeutschen einen un¬ organisierten, sich häufig untereinander grimmig befehdenden Haufen bilden, während die Deutschen eine durch die mannigfachsten Bande in sich geschlossene Masse darstellen, ferner daß sie durch den Zusammenhang mit dem deutschen Mutterlande und vielfach durch die dort genossene Ausbildung den Berussver- tretern der andern Nationalitäten durch ihre Arbeitsleistungen überlegen sind. Die deutsche Bildung hat ebenso wie der deutsche Besitz seine herrschende Stellung behauptet. Für Livlands kleine Städte und Estland bin ich nicht in der Lage, ein einigermaßen brauchbares Material beizubringen. Es sei bemerkt, daß die Verhältnisse dort ähnlich sind, wenn man auch bei einer Zählung einen etwas größeren Prozentsatz Letten in Livland erhalten würde. Kirche und Wohltätigkeitsanstalten. Neben der Ritter- und Landschaft und dem deutschen Verein ist die dritte Hauptstütze des baltischen Deutschtums die protestantische Kirche gewesen. Hierbei ist wieder das ideelle Moment zu betonen: das protestantische Bekenntnis ist ein Band, das den einzelnen an deutscher Kultur und deutschen Kultureinflüssen festhält. Man hat im Innern Rußlands die Erfahrung gemacht, daß Deutsche, die zur griechisch-katholischen Kirche übertraten, ihrem Volkstum sofort verloren gingen. Wie es keine griechisch-katholische deutsche Kirchengemeinschaft gibt, so gibt es keine protestantisch russische. Deutsche und protestantische Kultur einerseits und russische und griechisch-katholische Unkultur andrerseits decken sich. Auch der Leite gilt daher im Innern Rußlands als Deutscher, weil er Protestant ist. Diese protestantische Kirche ist nun, wie am Anfange dieses Aufsatzes ge¬ sagt wurde, tatsächlich die herrschende. Lutheraner gab es 1897 1908701 79,99 Prozent, Protestanten anderen Bekenntnisses (größten Teils Reformierte) 9790 - 0,41 Prozent der Bevölkerung, griechisch-katholische Christen 250 642 10,50 Prozent. Von diesen sind die meisten durch Landversprechungen in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts verlockte Konvertiten. Sie sitzen hauptsächlich in bestimmten Gegenden Livlands, wo es 187 740 griechisch¬ katholische Christen gab. Daß jährlich Hunderte in den Schoß der protestantischen Kirche zurückkehren, ist schon bemerkt worden. Die protestantische Kirche ist eine von Deutschen beherrschte Institution. In allen drei Konsistorien sind die weltlichen und geistlichen Beisitzer aus¬ schließlich Deutsche, auf den Synoden der drei Provinzen herrscht die deutsche Majorität, wenn es in Livland auch mehr lettische Pastore als in Kurland (siehe oben) gibt. Die Verhandlungs- und Geschäftssprache ist das Deutsche. Nur die Kirchenbücher müssen seit 1890 in russischer Sprache geführt werden. Daß diese Kirche mit dem deutschen Geistesleben in Fühlung geblieben ist, beweist der in zahllosen Broschüren, Zeitungs- und Zeitschriftenartikeln und auf den Synoden geführte Apostolikumstreit, der 1913/14 das ganze Baltikum tief erregte.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_324408/354>, abgerufen am 22.07.2024.