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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Viertes Vierteljahr.

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Aus der modernen Ästhetik
Privatdozent or. R. Gest erreich von

meer Oliven und Zypressen habe ich die "Psychologie der Kunst"
von Richard Müller-Freienfels (zwei Bände, Leipzig, B. G. Teub-
ner) gelesen, an die Gestade des Gardasees ist sie mein Be¬
gleiter gewesen. Es war das rechte Buch in der Schönheit eben
beginnenden Herbstes. Unten die blaue Flut und die weiße, sonnen-
leuchtende Promenade von Gardone, ringsum dunkles Grün dickolü'ttriger Vegetation
des Südens und warme würzige Luft. Erinnerungen glücklicher, glücklicherer Tage.

Und nun habe ich es noch einmal gelesen, in der jetzigen Kriegszeit. Es
hat die Probe bestanden, die ein gutes Buch bestehen muß: daß man es noch
einmal lesen können muß, ohne daß der Eindruck nachläßt.

Die Ästhetik ist eine vorwiegend deutsche Wissenschaft, nicht im ausschließlichen
Sinne freilich: auch ihre Anfänge liegen in der Antike, bei Plato und Aristoteles.
Und wer wüßte nichts von ttora,?' ars poetica. In der Zeit der Erneuerung
der Kultur waren es Franzosen, die die Ästhetik ins Leben zurückriefen, später
kamen die Engländer, und es stieg durch sie eine erste Woge psychologischer
Ästhetik empor. Aber die entscheidenden Forscher waren doch Deutsche. Im
achtzehnten Jahrhundert liegen die Quellen auch der modernen Ästhetik.

Es wird kein Zufall sein, daß die Ästhetik bei uns entstanden ist. Es
steht mit ihr, wie es mit ihrer Schwester, der Kunstgeschichte, gewesen ist.
Unsere Stärke: das Theoretisieren, und unsere gegenüber den Romanen ge¬
ringere Fähigkeit zu Form- und Farbengebung mit um so bewußterer
Sehnsucht nach Kunst sind die Quellen von Ästhetik und Kunstgeschichte bei
uns gewesen.

Im Zeitalter der Spekulation war sie ihre Wurzeln ins metaphysische
Blau zu versenken bestrebt gewesen, im weiteren Verlauf des neunzehnten Jahr¬
hunderts hat die Ästhetik dann immer engere Fühlung mit der Geschichte der
Kunst auf der einen Seite und der Psychologie auf der andern gesucht; mit
dieser letzteren sie in Beziehung gesetzt zu haben, war vor allem das Verdienst
Fechners. Diese Tendenzen sind noch heute die herrschenden; was an spekulativer
Ästhetik sich regt, schnürt sich heute mit Vorliebe in die transzendentale, das heißt, die
neükantische Zwangsjacke; auch sie besteht aus apriorischen Prinzipien, aber sie




Aus der modernen Ästhetik
Privatdozent or. R. Gest erreich von

meer Oliven und Zypressen habe ich die „Psychologie der Kunst"
von Richard Müller-Freienfels (zwei Bände, Leipzig, B. G. Teub-
ner) gelesen, an die Gestade des Gardasees ist sie mein Be¬
gleiter gewesen. Es war das rechte Buch in der Schönheit eben
beginnenden Herbstes. Unten die blaue Flut und die weiße, sonnen-
leuchtende Promenade von Gardone, ringsum dunkles Grün dickolü'ttriger Vegetation
des Südens und warme würzige Luft. Erinnerungen glücklicher, glücklicherer Tage.

Und nun habe ich es noch einmal gelesen, in der jetzigen Kriegszeit. Es
hat die Probe bestanden, die ein gutes Buch bestehen muß: daß man es noch
einmal lesen können muß, ohne daß der Eindruck nachläßt.

Die Ästhetik ist eine vorwiegend deutsche Wissenschaft, nicht im ausschließlichen
Sinne freilich: auch ihre Anfänge liegen in der Antike, bei Plato und Aristoteles.
Und wer wüßte nichts von ttora,?' ars poetica. In der Zeit der Erneuerung
der Kultur waren es Franzosen, die die Ästhetik ins Leben zurückriefen, später
kamen die Engländer, und es stieg durch sie eine erste Woge psychologischer
Ästhetik empor. Aber die entscheidenden Forscher waren doch Deutsche. Im
achtzehnten Jahrhundert liegen die Quellen auch der modernen Ästhetik.

Es wird kein Zufall sein, daß die Ästhetik bei uns entstanden ist. Es
steht mit ihr, wie es mit ihrer Schwester, der Kunstgeschichte, gewesen ist.
Unsere Stärke: das Theoretisieren, und unsere gegenüber den Romanen ge¬
ringere Fähigkeit zu Form- und Farbengebung mit um so bewußterer
Sehnsucht nach Kunst sind die Quellen von Ästhetik und Kunstgeschichte bei
uns gewesen.

Im Zeitalter der Spekulation war sie ihre Wurzeln ins metaphysische
Blau zu versenken bestrebt gewesen, im weiteren Verlauf des neunzehnten Jahr¬
hunderts hat die Ästhetik dann immer engere Fühlung mit der Geschichte der
Kunst auf der einen Seite und der Psychologie auf der andern gesucht; mit
dieser letzteren sie in Beziehung gesetzt zu haben, war vor allem das Verdienst
Fechners. Diese Tendenzen sind noch heute die herrschenden; was an spekulativer
Ästhetik sich regt, schnürt sich heute mit Vorliebe in die transzendentale, das heißt, die
neükantische Zwangsjacke; auch sie besteht aus apriorischen Prinzipien, aber sie


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[0322] [Abbildung] Aus der modernen Ästhetik Privatdozent or. R. Gest erreich von meer Oliven und Zypressen habe ich die „Psychologie der Kunst" von Richard Müller-Freienfels (zwei Bände, Leipzig, B. G. Teub- ner) gelesen, an die Gestade des Gardasees ist sie mein Be¬ gleiter gewesen. Es war das rechte Buch in der Schönheit eben beginnenden Herbstes. Unten die blaue Flut und die weiße, sonnen- leuchtende Promenade von Gardone, ringsum dunkles Grün dickolü'ttriger Vegetation des Südens und warme würzige Luft. Erinnerungen glücklicher, glücklicherer Tage. Und nun habe ich es noch einmal gelesen, in der jetzigen Kriegszeit. Es hat die Probe bestanden, die ein gutes Buch bestehen muß: daß man es noch einmal lesen können muß, ohne daß der Eindruck nachläßt. Die Ästhetik ist eine vorwiegend deutsche Wissenschaft, nicht im ausschließlichen Sinne freilich: auch ihre Anfänge liegen in der Antike, bei Plato und Aristoteles. Und wer wüßte nichts von ttora,?' ars poetica. In der Zeit der Erneuerung der Kultur waren es Franzosen, die die Ästhetik ins Leben zurückriefen, später kamen die Engländer, und es stieg durch sie eine erste Woge psychologischer Ästhetik empor. Aber die entscheidenden Forscher waren doch Deutsche. Im achtzehnten Jahrhundert liegen die Quellen auch der modernen Ästhetik. Es wird kein Zufall sein, daß die Ästhetik bei uns entstanden ist. Es steht mit ihr, wie es mit ihrer Schwester, der Kunstgeschichte, gewesen ist. Unsere Stärke: das Theoretisieren, und unsere gegenüber den Romanen ge¬ ringere Fähigkeit zu Form- und Farbengebung mit um so bewußterer Sehnsucht nach Kunst sind die Quellen von Ästhetik und Kunstgeschichte bei uns gewesen. Im Zeitalter der Spekulation war sie ihre Wurzeln ins metaphysische Blau zu versenken bestrebt gewesen, im weiteren Verlauf des neunzehnten Jahr¬ hunderts hat die Ästhetik dann immer engere Fühlung mit der Geschichte der Kunst auf der einen Seite und der Psychologie auf der andern gesucht; mit dieser letzteren sie in Beziehung gesetzt zu haben, war vor allem das Verdienst Fechners. Diese Tendenzen sind noch heute die herrschenden; was an spekulativer Ästhetik sich regt, schnürt sich heute mit Vorliebe in die transzendentale, das heißt, die neükantische Zwangsjacke; auch sie besteht aus apriorischen Prinzipien, aber sie

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_324408/322>, abgerufen am 22.07.2024.