Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite


Die innere Lage in Rußland

le Auflösung der Duma war äußerlich ruhig aufgenommen
worden. Bewußt hatten die Führer der Opposition zur Ver¬
meidung jeder Unruhe gemahnt; die Erregung der Massen war
erst auf den bekannten Moskaner Kongressen in jenen stürmischen
Reden zum Ausdruck gekommen, die energisch ein verantwort¬
liches Ministerium und baldige Wiedereinberufung der gesetzgebenden Körper¬
schaften forderten. Die Stimmung des Volkes fand Wiederhall in den fast
drohend klingenden Äußerungen der russischen Presse. Die Antwort der
Regierung war: Absetzung des liberalisierenden Schtscherbatow und seine Er-
!etzung durch den Führer der rechten Parteien Chwostow. Aufschiebung der
Wiedereinberufung der Duma, und die glatte Erklärung, daß man an die
Verwirklichung der Forderungen des progressiven Blockes nicht denken dürfe.
Ehwostow, in der Behandlung "der russischen Seele" äußerst erfahren, gab
^nterwiews an Zeitungsleute, unterhielt sich mit Semstwomännern, versuchte
einen Teil der liberalen Presse zu gewinnen, tat aber alles, was den Wünschen
der Volksvertreter und der "Gesellschaft" entgegenlief. Sein Ziel ging dahin,
das Volk von den politischen Fragen auf die ökonomischen abzulenken: parva
circenssZ -- weiter nichts.

Welche Wirkung hat diese Politik bisher auf die Stimmung des Volkes
gehabt?

Wenn man die russische Presse von heute mit der Presse zur Zeit der
Moskaner Versammlungen vergleicht, wenn man das, was die führenden
politischen Köpfe Rußlands am 17. Oktober, dem zehnjährigen Jahrestag des
berühmten Oktobermanifestes gesagt haben, mit den Reden eines Lwow und
Gutschkow zusammenstellt, so ergibt sich der Eindruck tiefster Niedergeschlagen¬
heit und Hoffnungslosigkeit. Bei Chwostows Ernennung gab sein menschliches


Grenzboten IV 1916 16


Die innere Lage in Rußland

le Auflösung der Duma war äußerlich ruhig aufgenommen
worden. Bewußt hatten die Führer der Opposition zur Ver¬
meidung jeder Unruhe gemahnt; die Erregung der Massen war
erst auf den bekannten Moskaner Kongressen in jenen stürmischen
Reden zum Ausdruck gekommen, die energisch ein verantwort¬
liches Ministerium und baldige Wiedereinberufung der gesetzgebenden Körper¬
schaften forderten. Die Stimmung des Volkes fand Wiederhall in den fast
drohend klingenden Äußerungen der russischen Presse. Die Antwort der
Regierung war: Absetzung des liberalisierenden Schtscherbatow und seine Er-
!etzung durch den Führer der rechten Parteien Chwostow. Aufschiebung der
Wiedereinberufung der Duma, und die glatte Erklärung, daß man an die
Verwirklichung der Forderungen des progressiven Blockes nicht denken dürfe.
Ehwostow, in der Behandlung „der russischen Seele" äußerst erfahren, gab
^nterwiews an Zeitungsleute, unterhielt sich mit Semstwomännern, versuchte
einen Teil der liberalen Presse zu gewinnen, tat aber alles, was den Wünschen
der Volksvertreter und der „Gesellschaft" entgegenlief. Sein Ziel ging dahin,
das Volk von den politischen Fragen auf die ökonomischen abzulenken: parva
circenssZ — weiter nichts.

Welche Wirkung hat diese Politik bisher auf die Stimmung des Volkes
gehabt?

Wenn man die russische Presse von heute mit der Presse zur Zeit der
Moskaner Versammlungen vergleicht, wenn man das, was die führenden
politischen Köpfe Rußlands am 17. Oktober, dem zehnjährigen Jahrestag des
berühmten Oktobermanifestes gesagt haben, mit den Reden eines Lwow und
Gutschkow zusammenstellt, so ergibt sich der Eindruck tiefster Niedergeschlagen¬
heit und Hoffnungslosigkeit. Bei Chwostows Ernennung gab sein menschliches


Grenzboten IV 1916 16
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0237" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/324650"/>
          <figure facs="http://media.dwds.de/dta/images/grenzboten_341901_324408/figures/grenzboten_341901_324408_324650_000.jpg"/><lb/>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Die innere Lage in Rußland</head><lb/>
          <p xml:id="ID_840"> le Auflösung der Duma war äußerlich ruhig aufgenommen<lb/>
worden.  Bewußt hatten die Führer der Opposition zur Ver¬<lb/>
meidung jeder Unruhe gemahnt; die Erregung der Massen war<lb/>
erst auf den bekannten Moskaner Kongressen in jenen stürmischen<lb/>
Reden zum Ausdruck gekommen, die energisch ein verantwort¬<lb/>
liches Ministerium und baldige Wiedereinberufung der gesetzgebenden Körper¬<lb/>
schaften forderten. Die Stimmung des Volkes fand Wiederhall in den fast<lb/>
drohend klingenden Äußerungen der russischen Presse.  Die Antwort der<lb/>
Regierung war: Absetzung des liberalisierenden Schtscherbatow und seine Er-<lb/>
!etzung durch den Führer der rechten Parteien Chwostow. Aufschiebung der<lb/>
Wiedereinberufung der Duma, und die glatte Erklärung, daß man an die<lb/>
Verwirklichung der Forderungen des progressiven Blockes nicht denken dürfe.<lb/>
Ehwostow, in der Behandlung &#x201E;der russischen Seele" äußerst erfahren, gab<lb/>
^nterwiews an Zeitungsleute, unterhielt sich mit Semstwomännern, versuchte<lb/>
einen Teil der liberalen Presse zu gewinnen, tat aber alles, was den Wünschen<lb/>
der Volksvertreter und der &#x201E;Gesellschaft" entgegenlief.  Sein Ziel ging dahin,<lb/>
das Volk von den politischen Fragen auf die ökonomischen abzulenken: parva<lb/>
circenssZ &#x2014; weiter nichts.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_841"> Welche Wirkung hat diese Politik bisher auf die Stimmung des Volkes<lb/>
gehabt?</p><lb/>
          <p xml:id="ID_842" next="#ID_843"> Wenn man die russische Presse von heute mit der Presse zur Zeit der<lb/>
Moskaner Versammlungen vergleicht, wenn man das, was die führenden<lb/>
politischen Köpfe Rußlands am 17. Oktober, dem zehnjährigen Jahrestag des<lb/>
berühmten Oktobermanifestes gesagt haben, mit den Reden eines Lwow und<lb/>
Gutschkow zusammenstellt, so ergibt sich der Eindruck tiefster Niedergeschlagen¬<lb/>
heit und Hoffnungslosigkeit.  Bei Chwostows Ernennung gab sein menschliches</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten IV 1916 16</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0237] [Abbildung] Die innere Lage in Rußland le Auflösung der Duma war äußerlich ruhig aufgenommen worden. Bewußt hatten die Führer der Opposition zur Ver¬ meidung jeder Unruhe gemahnt; die Erregung der Massen war erst auf den bekannten Moskaner Kongressen in jenen stürmischen Reden zum Ausdruck gekommen, die energisch ein verantwort¬ liches Ministerium und baldige Wiedereinberufung der gesetzgebenden Körper¬ schaften forderten. Die Stimmung des Volkes fand Wiederhall in den fast drohend klingenden Äußerungen der russischen Presse. Die Antwort der Regierung war: Absetzung des liberalisierenden Schtscherbatow und seine Er- !etzung durch den Führer der rechten Parteien Chwostow. Aufschiebung der Wiedereinberufung der Duma, und die glatte Erklärung, daß man an die Verwirklichung der Forderungen des progressiven Blockes nicht denken dürfe. Ehwostow, in der Behandlung „der russischen Seele" äußerst erfahren, gab ^nterwiews an Zeitungsleute, unterhielt sich mit Semstwomännern, versuchte einen Teil der liberalen Presse zu gewinnen, tat aber alles, was den Wünschen der Volksvertreter und der „Gesellschaft" entgegenlief. Sein Ziel ging dahin, das Volk von den politischen Fragen auf die ökonomischen abzulenken: parva circenssZ — weiter nichts. Welche Wirkung hat diese Politik bisher auf die Stimmung des Volkes gehabt? Wenn man die russische Presse von heute mit der Presse zur Zeit der Moskaner Versammlungen vergleicht, wenn man das, was die führenden politischen Köpfe Rußlands am 17. Oktober, dem zehnjährigen Jahrestag des berühmten Oktobermanifestes gesagt haben, mit den Reden eines Lwow und Gutschkow zusammenstellt, so ergibt sich der Eindruck tiefster Niedergeschlagen¬ heit und Hoffnungslosigkeit. Bei Chwostows Ernennung gab sein menschliches Grenzboten IV 1916 16

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_324408
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_324408/237
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_324408/237>, abgerufen am 22.07.2024.