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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Drittes Vierteljahr.

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Vom geistigen Zarismus
Dr, Aarl Nötzel von

er russische, der ursprünglich Moskaner Staat beruht auf Zwang.
Der war notwendig. Denn dieses Reich hatte keine natürlichen
Ms^W^ Grenzen, und war dazu noch von Süden und Osten her ständig
bedroht durch asiatische Horden, deren Vernichtungswut das
^^^^Le russische Volk aus den Zeiten des Tartarenjochs her genügend
kannte, und denen gegenüber es sein Geistiges, das Christentum, zu verteidigen
hatte. Daher wurden denn auch alle materiellen Kräfte dieses Reiches zu seiner
Erhaltung benötigt. Und auch die geistigen Kräfte der Nation ordneten sich
freiwillig diesem Zweck unter. Die Zusammenfassung der höchsten Gewalten
in einer Hand, der Despotismus, das Zartum, war unerläßlich in einem
derart bedrohten Staate und auch so anerkannt. Das russische Volk äußerte
demnach ursprünglich und im Verlaufe seiner ganzen Geschichte seinen eigentlichen
Willen lediglich in der Unterstützung, die es dem russischen Staatswesen gewährte.
In allem anderen war es an Zwang gewöhnt. Und das selbst innerhalb der
Einrichtungen, die überall sonst als Verwirklichung der Freiheit gelten. So ist
Zum Beispiel der vielgerühmte russische Landkommunismus nichts anderes als
eine Zwangseinrichtung des Staates: eine Steuerentrichtungsgemeinschaft, die
auf Kollektivbürgschast beruht. Als selbstverständlich erscheint in solchem Zu¬
sammenhang auch die Vereinigung von Kirche und Staat im zarischen Reich.
Auch das geschah aus freiem Übereinkommen -- darin mag auch die Festigkeit
dieses Bundes beruhen: der Staat gewährleistete der Kirche ihre Lehre, die
Kirche dem Staate den Gehorsam ihrer Bekenner. So ward denn im Moskauer¬
reiche der Zwang auch auf das Gebiet ausgedehnt, das eigentlich das Heimat¬
land aller geistigen Freiheiten sein sollte: auf das religiöse. Diese Tatsache,
daß an der Wiege des russischen Staates der Zwang stand, und daß er
ursprünglich als Notwendigkeit vom Volksbewußtsein gebilligt ward, sollten wir
nie aus den Augen lassen, wenn wir gewissen Eigenarten in den geistigen
Äußerungen Rußlands gerecht werden wollen. Noch immer herrscht hier ein


Grenzboten III 1915 13


Vom geistigen Zarismus
Dr, Aarl Nötzel von

er russische, der ursprünglich Moskaner Staat beruht auf Zwang.
Der war notwendig. Denn dieses Reich hatte keine natürlichen
Ms^W^ Grenzen, und war dazu noch von Süden und Osten her ständig
bedroht durch asiatische Horden, deren Vernichtungswut das
^^^^Le russische Volk aus den Zeiten des Tartarenjochs her genügend
kannte, und denen gegenüber es sein Geistiges, das Christentum, zu verteidigen
hatte. Daher wurden denn auch alle materiellen Kräfte dieses Reiches zu seiner
Erhaltung benötigt. Und auch die geistigen Kräfte der Nation ordneten sich
freiwillig diesem Zweck unter. Die Zusammenfassung der höchsten Gewalten
in einer Hand, der Despotismus, das Zartum, war unerläßlich in einem
derart bedrohten Staate und auch so anerkannt. Das russische Volk äußerte
demnach ursprünglich und im Verlaufe seiner ganzen Geschichte seinen eigentlichen
Willen lediglich in der Unterstützung, die es dem russischen Staatswesen gewährte.
In allem anderen war es an Zwang gewöhnt. Und das selbst innerhalb der
Einrichtungen, die überall sonst als Verwirklichung der Freiheit gelten. So ist
Zum Beispiel der vielgerühmte russische Landkommunismus nichts anderes als
eine Zwangseinrichtung des Staates: eine Steuerentrichtungsgemeinschaft, die
auf Kollektivbürgschast beruht. Als selbstverständlich erscheint in solchem Zu¬
sammenhang auch die Vereinigung von Kirche und Staat im zarischen Reich.
Auch das geschah aus freiem Übereinkommen — darin mag auch die Festigkeit
dieses Bundes beruhen: der Staat gewährleistete der Kirche ihre Lehre, die
Kirche dem Staate den Gehorsam ihrer Bekenner. So ward denn im Moskauer¬
reiche der Zwang auch auf das Gebiet ausgedehnt, das eigentlich das Heimat¬
land aller geistigen Freiheiten sein sollte: auf das religiöse. Diese Tatsache,
daß an der Wiege des russischen Staates der Zwang stand, und daß er
ursprünglich als Notwendigkeit vom Volksbewußtsein gebilligt ward, sollten wir
nie aus den Augen lassen, wenn wir gewissen Eigenarten in den geistigen
Äußerungen Rußlands gerecht werden wollen. Noch immer herrscht hier ein


Grenzboten III 1915 13
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[0205] [Abbildung] Vom geistigen Zarismus Dr, Aarl Nötzel von er russische, der ursprünglich Moskaner Staat beruht auf Zwang. Der war notwendig. Denn dieses Reich hatte keine natürlichen Ms^W^ Grenzen, und war dazu noch von Süden und Osten her ständig bedroht durch asiatische Horden, deren Vernichtungswut das ^^^^Le russische Volk aus den Zeiten des Tartarenjochs her genügend kannte, und denen gegenüber es sein Geistiges, das Christentum, zu verteidigen hatte. Daher wurden denn auch alle materiellen Kräfte dieses Reiches zu seiner Erhaltung benötigt. Und auch die geistigen Kräfte der Nation ordneten sich freiwillig diesem Zweck unter. Die Zusammenfassung der höchsten Gewalten in einer Hand, der Despotismus, das Zartum, war unerläßlich in einem derart bedrohten Staate und auch so anerkannt. Das russische Volk äußerte demnach ursprünglich und im Verlaufe seiner ganzen Geschichte seinen eigentlichen Willen lediglich in der Unterstützung, die es dem russischen Staatswesen gewährte. In allem anderen war es an Zwang gewöhnt. Und das selbst innerhalb der Einrichtungen, die überall sonst als Verwirklichung der Freiheit gelten. So ist Zum Beispiel der vielgerühmte russische Landkommunismus nichts anderes als eine Zwangseinrichtung des Staates: eine Steuerentrichtungsgemeinschaft, die auf Kollektivbürgschast beruht. Als selbstverständlich erscheint in solchem Zu¬ sammenhang auch die Vereinigung von Kirche und Staat im zarischen Reich. Auch das geschah aus freiem Übereinkommen — darin mag auch die Festigkeit dieses Bundes beruhen: der Staat gewährleistete der Kirche ihre Lehre, die Kirche dem Staate den Gehorsam ihrer Bekenner. So ward denn im Moskauer¬ reiche der Zwang auch auf das Gebiet ausgedehnt, das eigentlich das Heimat¬ land aller geistigen Freiheiten sein sollte: auf das religiöse. Diese Tatsache, daß an der Wiege des russischen Staates der Zwang stand, und daß er ursprünglich als Notwendigkeit vom Volksbewußtsein gebilligt ward, sollten wir nie aus den Augen lassen, wenn wir gewissen Eigenarten in den geistigen Äußerungen Rußlands gerecht werden wollen. Noch immer herrscht hier ein Grenzboten III 1915 13

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323972/205>, abgerufen am 22.07.2024.