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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Viertes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

[Beginn Spaltensatz]

wordene Sprachweise sei. Es ist eine über-
flüssige Neuerung von gesuchter und deshalb
anstößiger Gewähltheit,

Wie eine Epidemie greift jetzt um
sich, daß man am Schluß seiner Aus¬
sagen, oft sogar schon in den Ab¬
schnitten eines einzigen Satzes, ein an den
Zuhörer gerichtetes fragendes "nicht?" ein¬
fügt. Von Volksgenossen aus allen Teilen
Norddeutschlands habe ich das, doch erst seit
drei bis vier Jahren, in der befremdendsten
Weise gehört; ob es auch in Mittel- und Süd¬
deutschland schon so eingerissen ist, bin ich
nicht imstande zu sagen. Es macht den Eindruck,
als ob man ohne sich Schritt für Schritt der
fremden Zustimmung zu versichern nicht
weiterzugehen den Mut hat, es an der für
das Leben durchaus nötigen Portion von
Selbstvertrauen fehlen läßt. Auffallend ist,
daß das "nicht wahr?" zu dem einfachen
"nicht" zusammengeschmolzen ist. Nun kann
ja die Bergewisserung, daß der Hörende ganz
genau die entscheidenden Punkte der Rede¬
strecke aufgefaßt hat, wichtig und ein ent¬

[Spaltenumbruch]

schieden gefühltes Bedürfnis sein, wie z. B.
in den Gedankenketten eines Platonischen
Dialogs. Aber jetzt fügt man das "nicht?"
auch den einfachsten erzählenden Sätzen hinzu.
Und das seltsamste ist, daß der Hörer oft
gar nicht imstande ist, die gewünschte Be¬
stätigung des Gesagten zu erteilen, weil er
etwas ihm ganz Neues zu hören bekommt.
Es kommt vor, daß einem ein Mensch, den
man eben neu kennen lernt, Daten aus
seinem Leben angibt mit einem "nicht?"
hinter jedem dieser Daten, so daß ich einmal
höflich dazwischen sagte: "Sie sagen es ja,
aber, bester Herr, ich kann es doch nicht
wissen," Franzosen und Belgier über¬
schwemmen ihre Unterhaltung mit übermäßig
vielen ,,n' est ve pas?" Das empfindet
man gewiß nicht angenehm; aber mit dem
deutschen "nicht?" wird es jetzt fast noch
schlimmer. Möchte man daran denken und
dieser wie ansteckend einherschreitenden An¬
gewohnheit wieder Einhalt tun: es ist wirk¬
lich hohe Zeit,

Max Schneidewin [Ende Spaltensatz]


Ergänzung.

Zu den Ausführungen des Herrn Professor Herbertz in Heft 48 der
Grenzboten sei bezüglich der Bevölkerungsdichte in den europäischen Großstaaten bemerkt: die
Bevölkerung zählte im Jahre 1912

im europäischen Rußland. . . . rund 120 Millionen
in Deutschland....... " 66 "
" England........ " 46 "
" Frankreich....... "40 "

das ergibt Pro Quadratkilometer für das europäische Rußland nur 22 Seelen, für
Deutschland dagegen 122, für Frankreich 74.

Das Volksvermögen betrug nach einer neuen Schätzung (Kölnische Zeitung Ur.
vom 28. November) etwa für 19061296

in Deutschland.... 330 bis 360 Milliarden Mark
" England..... 263 " 300
" Frankreich .... 225 " 2ö0

Die Schriftleitung


Maßgebliches und Unmaßgebliches

[Beginn Spaltensatz]

wordene Sprachweise sei. Es ist eine über-
flüssige Neuerung von gesuchter und deshalb
anstößiger Gewähltheit,

Wie eine Epidemie greift jetzt um
sich, daß man am Schluß seiner Aus¬
sagen, oft sogar schon in den Ab¬
schnitten eines einzigen Satzes, ein an den
Zuhörer gerichtetes fragendes „nicht?" ein¬
fügt. Von Volksgenossen aus allen Teilen
Norddeutschlands habe ich das, doch erst seit
drei bis vier Jahren, in der befremdendsten
Weise gehört; ob es auch in Mittel- und Süd¬
deutschland schon so eingerissen ist, bin ich
nicht imstande zu sagen. Es macht den Eindruck,
als ob man ohne sich Schritt für Schritt der
fremden Zustimmung zu versichern nicht
weiterzugehen den Mut hat, es an der für
das Leben durchaus nötigen Portion von
Selbstvertrauen fehlen läßt. Auffallend ist,
daß das „nicht wahr?" zu dem einfachen
„nicht" zusammengeschmolzen ist. Nun kann
ja die Bergewisserung, daß der Hörende ganz
genau die entscheidenden Punkte der Rede¬
strecke aufgefaßt hat, wichtig und ein ent¬

[Spaltenumbruch]

schieden gefühltes Bedürfnis sein, wie z. B.
in den Gedankenketten eines Platonischen
Dialogs. Aber jetzt fügt man das „nicht?"
auch den einfachsten erzählenden Sätzen hinzu.
Und das seltsamste ist, daß der Hörer oft
gar nicht imstande ist, die gewünschte Be¬
stätigung des Gesagten zu erteilen, weil er
etwas ihm ganz Neues zu hören bekommt.
Es kommt vor, daß einem ein Mensch, den
man eben neu kennen lernt, Daten aus
seinem Leben angibt mit einem „nicht?"
hinter jedem dieser Daten, so daß ich einmal
höflich dazwischen sagte: „Sie sagen es ja,
aber, bester Herr, ich kann es doch nicht
wissen," Franzosen und Belgier über¬
schwemmen ihre Unterhaltung mit übermäßig
vielen ,,n' est ve pas?" Das empfindet
man gewiß nicht angenehm; aber mit dem
deutschen „nicht?" wird es jetzt fast noch
schlimmer. Möchte man daran denken und
dieser wie ansteckend einherschreitenden An¬
gewohnheit wieder Einhalt tun: es ist wirk¬
lich hohe Zeit,

Max Schneidewin [Ende Spaltensatz]


Ergänzung.

Zu den Ausführungen des Herrn Professor Herbertz in Heft 48 der
Grenzboten sei bezüglich der Bevölkerungsdichte in den europäischen Großstaaten bemerkt: die
Bevölkerung zählte im Jahre 1912

im europäischen Rußland. . . . rund 120 Millionen
in Deutschland....... „ 66 „
„ England........ „ 46 „
„ Frankreich....... „40 „

das ergibt Pro Quadratkilometer für das europäische Rußland nur 22 Seelen, für
Deutschland dagegen 122, für Frankreich 74.

Das Volksvermögen betrug nach einer neuen Schätzung (Kölnische Zeitung Ur.
vom 28. November) etwa für 19061296

in Deutschland.... 330 bis 360 Milliarden Mark
„ England..... 263 „ 300
„ Frankreich .... 225 „ 2ö0

Die Schriftleitung


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[0357] Maßgebliches und Unmaßgebliches wordene Sprachweise sei. Es ist eine über- flüssige Neuerung von gesuchter und deshalb anstößiger Gewähltheit, Wie eine Epidemie greift jetzt um sich, daß man am Schluß seiner Aus¬ sagen, oft sogar schon in den Ab¬ schnitten eines einzigen Satzes, ein an den Zuhörer gerichtetes fragendes „nicht?" ein¬ fügt. Von Volksgenossen aus allen Teilen Norddeutschlands habe ich das, doch erst seit drei bis vier Jahren, in der befremdendsten Weise gehört; ob es auch in Mittel- und Süd¬ deutschland schon so eingerissen ist, bin ich nicht imstande zu sagen. Es macht den Eindruck, als ob man ohne sich Schritt für Schritt der fremden Zustimmung zu versichern nicht weiterzugehen den Mut hat, es an der für das Leben durchaus nötigen Portion von Selbstvertrauen fehlen läßt. Auffallend ist, daß das „nicht wahr?" zu dem einfachen „nicht" zusammengeschmolzen ist. Nun kann ja die Bergewisserung, daß der Hörende ganz genau die entscheidenden Punkte der Rede¬ strecke aufgefaßt hat, wichtig und ein ent¬ schieden gefühltes Bedürfnis sein, wie z. B. in den Gedankenketten eines Platonischen Dialogs. Aber jetzt fügt man das „nicht?" auch den einfachsten erzählenden Sätzen hinzu. Und das seltsamste ist, daß der Hörer oft gar nicht imstande ist, die gewünschte Be¬ stätigung des Gesagten zu erteilen, weil er etwas ihm ganz Neues zu hören bekommt. Es kommt vor, daß einem ein Mensch, den man eben neu kennen lernt, Daten aus seinem Leben angibt mit einem „nicht?" hinter jedem dieser Daten, so daß ich einmal höflich dazwischen sagte: „Sie sagen es ja, aber, bester Herr, ich kann es doch nicht wissen," Franzosen und Belgier über¬ schwemmen ihre Unterhaltung mit übermäßig vielen ,,n' est ve pas?" Das empfindet man gewiß nicht angenehm; aber mit dem deutschen „nicht?" wird es jetzt fast noch schlimmer. Möchte man daran denken und dieser wie ansteckend einherschreitenden An¬ gewohnheit wieder Einhalt tun: es ist wirk¬ lich hohe Zeit, Max Schneidewin Ergänzung. Zu den Ausführungen des Herrn Professor Herbertz in Heft 48 der Grenzboten sei bezüglich der Bevölkerungsdichte in den europäischen Großstaaten bemerkt: die Bevölkerung zählte im Jahre 1912 im europäischen Rußland. . . . rund 120 Millionen in Deutschland....... „ 66 „ „ England........ „ 46 „ „ Frankreich....... „40 „ das ergibt Pro Quadratkilometer für das europäische Rußland nur 22 Seelen, für Deutschland dagegen 122, für Frankreich 74. Das Volksvermögen betrug nach einer neuen Schätzung (Kölnische Zeitung Ur. vom 28. November) etwa für 19061296 in Deutschland.... 330 bis 360 Milliarden Mark „ England..... 263 „ 300 „ Frankreich .... 225 „ 2ö0 Die Schriftleitung

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_329227/357>, abgerufen am 27.06.2024.