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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Viertes Vierteljahr.

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Luther und die neuhochdeutsche Schriftsprache

leiden, deshalb faßte er das Leiden nicht als Reinigung, sondern als Ver¬
gewaltigung auf." Auf solche oberflächliche Art erhebt sich der Westeuropäer
über die höchsten Erscheinungen der slawischen Kultur. Er hat sich nicht daran
gewöhnt, die slawischen Eigentümlichkeiten zu beachten, er betrachtet sie vielmehr
als Rückschritt. Franzosen und Deutsche denken, daß Rußland ein Beispiel des
Rückschritts und der gesellschaftlichen Ungerechtigkeit ist. Diese zwei gegnerischen
Neigungen: die russische, die mehr sucht, als die europäische Kultur gibt, und
die europäische, welche glaubt, sie müsse die russische zu sich erheben, finden in
dem Weltkrieg ihren Ausdruck*). Dieser Kampf wird den ganzen historischen
Sinn jenen früheren Zusammenstößen der Slawen mit Europa im Namen der
Gerechtigkeit zuwenden. Durch ihn wird sich Rußland schließlich mit dem übrigen
Slawentum zu einer Kultureinheit zusammenschließen und das ganze Slawentum
wird als eine Welt für sich hervortreten mit seiner Lebensweisheit, seiner Kultur.
Wenn die Zeichen nicht trügen, wird das Hauptmerkmal dieser Kultur in fol¬
gendem liegen: Befreiung des Lebens von der Ungerechtigkeit der romanischen
Gesellschaft und der feudalen "Gebundenheit" der germanischen, wodurch ihm
größere Spontaneität und persönliche Selbstbestimmung zurückgegeben wird.

Die lateinische und die germanische Kultur sind ausgebildet und treten
deutlich hervor, die slawische befindet sich in einem chaotischen Streben, und wir
können nichts anderes tun, als sie als ein Problem begreifen, dessen Aus¬
arbeitung wert ist, daß man ihr -- alles zum Opfer bringt.




9er geschichtliche Aem der Legende von Luthers
Schöpfung der neuhochdeutschen Schriftsprache
Prof. Dr. Carl Franke von

In dieser Zeit nationalen Sichbesinnens, wo auch die deutsche
Sprache einem tiefen Reinigungsverfahren unterworfen wird, werden
die nachfolgenden Darlegungen des für seine "Grundzüge der Schrift¬
sprache Luthers" preisgekrönten Verfassers sicher gern gelesen werden.


G. <Li,

ährend schon vor etwa vierzig Jahren die Universitäten die deutsch¬
böhmische Kanzleisprache Kaiser Karls des Vierten, die südost-
mitteldeutschen Charakter hat, als Grundlage unserer neuhoch¬
deutschen Schriftsprache ansahen, lehrte man in den Schulen noch,
daß Luther diese geschaffen habe. Die Überschätzung der sprach¬
lichen Verdienste Luthers hängt wohl damit zusammen, daß die strengen Lutheraner
ihn nach seinem Tode wie einen Heiligen verehrten. So erscheint Joh, Clajus
1578 Luthers Sprache in der Bibel als so mustergültig, daß er sie für eine



*) Diesen Gedanken habe ich bereits im Maihefte d. I. der Kroäk, Zeitschrift Savremenik
(Agrameb) ausgesprochen.
Luther und die neuhochdeutsche Schriftsprache

leiden, deshalb faßte er das Leiden nicht als Reinigung, sondern als Ver¬
gewaltigung auf." Auf solche oberflächliche Art erhebt sich der Westeuropäer
über die höchsten Erscheinungen der slawischen Kultur. Er hat sich nicht daran
gewöhnt, die slawischen Eigentümlichkeiten zu beachten, er betrachtet sie vielmehr
als Rückschritt. Franzosen und Deutsche denken, daß Rußland ein Beispiel des
Rückschritts und der gesellschaftlichen Ungerechtigkeit ist. Diese zwei gegnerischen
Neigungen: die russische, die mehr sucht, als die europäische Kultur gibt, und
die europäische, welche glaubt, sie müsse die russische zu sich erheben, finden in
dem Weltkrieg ihren Ausdruck*). Dieser Kampf wird den ganzen historischen
Sinn jenen früheren Zusammenstößen der Slawen mit Europa im Namen der
Gerechtigkeit zuwenden. Durch ihn wird sich Rußland schließlich mit dem übrigen
Slawentum zu einer Kultureinheit zusammenschließen und das ganze Slawentum
wird als eine Welt für sich hervortreten mit seiner Lebensweisheit, seiner Kultur.
Wenn die Zeichen nicht trügen, wird das Hauptmerkmal dieser Kultur in fol¬
gendem liegen: Befreiung des Lebens von der Ungerechtigkeit der romanischen
Gesellschaft und der feudalen „Gebundenheit" der germanischen, wodurch ihm
größere Spontaneität und persönliche Selbstbestimmung zurückgegeben wird.

Die lateinische und die germanische Kultur sind ausgebildet und treten
deutlich hervor, die slawische befindet sich in einem chaotischen Streben, und wir
können nichts anderes tun, als sie als ein Problem begreifen, dessen Aus¬
arbeitung wert ist, daß man ihr — alles zum Opfer bringt.




9er geschichtliche Aem der Legende von Luthers
Schöpfung der neuhochdeutschen Schriftsprache
Prof. Dr. Carl Franke von

In dieser Zeit nationalen Sichbesinnens, wo auch die deutsche
Sprache einem tiefen Reinigungsverfahren unterworfen wird, werden
die nachfolgenden Darlegungen des für seine „Grundzüge der Schrift¬
sprache Luthers" preisgekrönten Verfassers sicher gern gelesen werden.


G. <Li,

ährend schon vor etwa vierzig Jahren die Universitäten die deutsch¬
böhmische Kanzleisprache Kaiser Karls des Vierten, die südost-
mitteldeutschen Charakter hat, als Grundlage unserer neuhoch¬
deutschen Schriftsprache ansahen, lehrte man in den Schulen noch,
daß Luther diese geschaffen habe. Die Überschätzung der sprach¬
lichen Verdienste Luthers hängt wohl damit zusammen, daß die strengen Lutheraner
ihn nach seinem Tode wie einen Heiligen verehrten. So erscheint Joh, Clajus
1578 Luthers Sprache in der Bibel als so mustergültig, daß er sie für eine



*) Diesen Gedanken habe ich bereits im Maihefte d. I. der Kroäk, Zeitschrift Savremenik
(Agrameb) ausgesprochen.
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[0260] Luther und die neuhochdeutsche Schriftsprache leiden, deshalb faßte er das Leiden nicht als Reinigung, sondern als Ver¬ gewaltigung auf." Auf solche oberflächliche Art erhebt sich der Westeuropäer über die höchsten Erscheinungen der slawischen Kultur. Er hat sich nicht daran gewöhnt, die slawischen Eigentümlichkeiten zu beachten, er betrachtet sie vielmehr als Rückschritt. Franzosen und Deutsche denken, daß Rußland ein Beispiel des Rückschritts und der gesellschaftlichen Ungerechtigkeit ist. Diese zwei gegnerischen Neigungen: die russische, die mehr sucht, als die europäische Kultur gibt, und die europäische, welche glaubt, sie müsse die russische zu sich erheben, finden in dem Weltkrieg ihren Ausdruck*). Dieser Kampf wird den ganzen historischen Sinn jenen früheren Zusammenstößen der Slawen mit Europa im Namen der Gerechtigkeit zuwenden. Durch ihn wird sich Rußland schließlich mit dem übrigen Slawentum zu einer Kultureinheit zusammenschließen und das ganze Slawentum wird als eine Welt für sich hervortreten mit seiner Lebensweisheit, seiner Kultur. Wenn die Zeichen nicht trügen, wird das Hauptmerkmal dieser Kultur in fol¬ gendem liegen: Befreiung des Lebens von der Ungerechtigkeit der romanischen Gesellschaft und der feudalen „Gebundenheit" der germanischen, wodurch ihm größere Spontaneität und persönliche Selbstbestimmung zurückgegeben wird. Die lateinische und die germanische Kultur sind ausgebildet und treten deutlich hervor, die slawische befindet sich in einem chaotischen Streben, und wir können nichts anderes tun, als sie als ein Problem begreifen, dessen Aus¬ arbeitung wert ist, daß man ihr — alles zum Opfer bringt. 9er geschichtliche Aem der Legende von Luthers Schöpfung der neuhochdeutschen Schriftsprache Prof. Dr. Carl Franke von In dieser Zeit nationalen Sichbesinnens, wo auch die deutsche Sprache einem tiefen Reinigungsverfahren unterworfen wird, werden die nachfolgenden Darlegungen des für seine „Grundzüge der Schrift¬ sprache Luthers" preisgekrönten Verfassers sicher gern gelesen werden. G. <Li, ährend schon vor etwa vierzig Jahren die Universitäten die deutsch¬ böhmische Kanzleisprache Kaiser Karls des Vierten, die südost- mitteldeutschen Charakter hat, als Grundlage unserer neuhoch¬ deutschen Schriftsprache ansahen, lehrte man in den Schulen noch, daß Luther diese geschaffen habe. Die Überschätzung der sprach¬ lichen Verdienste Luthers hängt wohl damit zusammen, daß die strengen Lutheraner ihn nach seinem Tode wie einen Heiligen verehrten. So erscheint Joh, Clajus 1578 Luthers Sprache in der Bibel als so mustergültig, daß er sie für eine *) Diesen Gedanken habe ich bereits im Maihefte d. I. der Kroäk, Zeitschrift Savremenik (Agrameb) ausgesprochen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_329227/260>, abgerufen am 03.07.2024.