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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Drittes Vierteljahr.

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Das Problem der Arbeitslosenversicherung
in Deutschland
Oon (Lurt Kohlmcinn

Wit der am 1. August 1911 veröffentlichten Reichsversicherungs¬
ordnung und dem Versicherungsgesetz für Angestellte, das am
28. Dezember 1911 veröffentlicht wurde, ist die sich über rund
dreißig Jahre erstreckende sozialgesetzgeberische Tätigfeit in Deutsch¬
land zu einem vorläufigen Abschluß gekommen. Wenn dem
gewaltigen Gebäude infolge seines allmählichen Entstehens auch die Einheit¬
lichkeit mangelt, so können wir es doch mit Stolz vorbildlich und als ein
Kulturwerk allerersten Ranges bezeichnen, würdig unseres wirtschaftlichen Auf¬
schwunges, der in der Weltgeschichte geradezu beispiellos dasteht. Rund
12^/2 Milliarden Mark wurden von 1885 bis 1911 für Kranken-, Unfall- und
Invalidenversicherung beigesteuert, wovon die Arbeitgeber 50 Prozent, die Arbeiter
43 Prozent und das Reich 7 Prozent trugen, über 9 Milliarden Mark wurden
in 107 Millionen Fällen bei etwa 55 Millionen Versicherten gezahlt, wobei zu
berücksichtigen ist, daß fast zwei Drittel gleichzeitig in allen drei Versicherungen
sind. Weit über 4 Milliarden mehr, als sie zahlten, erhielten also die Arbeiter
infolge unserer sozialen Gesetzgebung, und nebenher sammelten die Versicherungen
noch Riesenvermögen, die sie in Krankenhäusern, Erholungsheimen und Wohl¬
tätigkeitsanstalten aller Art anlegten. Das sind Zahlen, die sich gewiß vor aller
Welt sehen lassen können, um so mehr, als alle diese Unsummen sicherlich
nutzbringend verausgabt wurden, stärkten sie doch die weitesten Kreise unseres
Volkes für den ständig härter werdenden Daseinskampf, beförderten sie doch
Gesundheit und Leistungsfähigkeit der Massen, denen zweifelsohne zum guten
Teile unser wirtschaftliches Vorankommen mit zu verdanken ist.

So überzeugend wirkten die Wohlthaten der deutschen sozialen Gesetzgebung,
daß das Ausland, wenn auch anfangs zögernd und widerstrebend, uns auf
der beschrittenen Bahn folgte, ja, in den letzten Jahren mußten wir es gar
erleben, daß uns England an einem Punkte überflügelte, wo wir uns stets
ablehnend verhalten hatten -- nämlich in der Arbeitslosenversicherung.

' Wenn so der eben erst vollendete Bau der deutschen Reichsversicherungs-
ordnung und ihrer Ergänzungsgesetze den dringenden Wunsch auslöst, zuvörderst




Das Problem der Arbeitslosenversicherung
in Deutschland
Oon (Lurt Kohlmcinn

Wit der am 1. August 1911 veröffentlichten Reichsversicherungs¬
ordnung und dem Versicherungsgesetz für Angestellte, das am
28. Dezember 1911 veröffentlicht wurde, ist die sich über rund
dreißig Jahre erstreckende sozialgesetzgeberische Tätigfeit in Deutsch¬
land zu einem vorläufigen Abschluß gekommen. Wenn dem
gewaltigen Gebäude infolge seines allmählichen Entstehens auch die Einheit¬
lichkeit mangelt, so können wir es doch mit Stolz vorbildlich und als ein
Kulturwerk allerersten Ranges bezeichnen, würdig unseres wirtschaftlichen Auf¬
schwunges, der in der Weltgeschichte geradezu beispiellos dasteht. Rund
12^/2 Milliarden Mark wurden von 1885 bis 1911 für Kranken-, Unfall- und
Invalidenversicherung beigesteuert, wovon die Arbeitgeber 50 Prozent, die Arbeiter
43 Prozent und das Reich 7 Prozent trugen, über 9 Milliarden Mark wurden
in 107 Millionen Fällen bei etwa 55 Millionen Versicherten gezahlt, wobei zu
berücksichtigen ist, daß fast zwei Drittel gleichzeitig in allen drei Versicherungen
sind. Weit über 4 Milliarden mehr, als sie zahlten, erhielten also die Arbeiter
infolge unserer sozialen Gesetzgebung, und nebenher sammelten die Versicherungen
noch Riesenvermögen, die sie in Krankenhäusern, Erholungsheimen und Wohl¬
tätigkeitsanstalten aller Art anlegten. Das sind Zahlen, die sich gewiß vor aller
Welt sehen lassen können, um so mehr, als alle diese Unsummen sicherlich
nutzbringend verausgabt wurden, stärkten sie doch die weitesten Kreise unseres
Volkes für den ständig härter werdenden Daseinskampf, beförderten sie doch
Gesundheit und Leistungsfähigkeit der Massen, denen zweifelsohne zum guten
Teile unser wirtschaftliches Vorankommen mit zu verdanken ist.

So überzeugend wirkten die Wohlthaten der deutschen sozialen Gesetzgebung,
daß das Ausland, wenn auch anfangs zögernd und widerstrebend, uns auf
der beschrittenen Bahn folgte, ja, in den letzten Jahren mußten wir es gar
erleben, daß uns England an einem Punkte überflügelte, wo wir uns stets
ablehnend verhalten hatten — nämlich in der Arbeitslosenversicherung.

' Wenn so der eben erst vollendete Bau der deutschen Reichsversicherungs-
ordnung und ihrer Ergänzungsgesetze den dringenden Wunsch auslöst, zuvörderst


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[0089] [Abbildung] Das Problem der Arbeitslosenversicherung in Deutschland Oon (Lurt Kohlmcinn Wit der am 1. August 1911 veröffentlichten Reichsversicherungs¬ ordnung und dem Versicherungsgesetz für Angestellte, das am 28. Dezember 1911 veröffentlicht wurde, ist die sich über rund dreißig Jahre erstreckende sozialgesetzgeberische Tätigfeit in Deutsch¬ land zu einem vorläufigen Abschluß gekommen. Wenn dem gewaltigen Gebäude infolge seines allmählichen Entstehens auch die Einheit¬ lichkeit mangelt, so können wir es doch mit Stolz vorbildlich und als ein Kulturwerk allerersten Ranges bezeichnen, würdig unseres wirtschaftlichen Auf¬ schwunges, der in der Weltgeschichte geradezu beispiellos dasteht. Rund 12^/2 Milliarden Mark wurden von 1885 bis 1911 für Kranken-, Unfall- und Invalidenversicherung beigesteuert, wovon die Arbeitgeber 50 Prozent, die Arbeiter 43 Prozent und das Reich 7 Prozent trugen, über 9 Milliarden Mark wurden in 107 Millionen Fällen bei etwa 55 Millionen Versicherten gezahlt, wobei zu berücksichtigen ist, daß fast zwei Drittel gleichzeitig in allen drei Versicherungen sind. Weit über 4 Milliarden mehr, als sie zahlten, erhielten also die Arbeiter infolge unserer sozialen Gesetzgebung, und nebenher sammelten die Versicherungen noch Riesenvermögen, die sie in Krankenhäusern, Erholungsheimen und Wohl¬ tätigkeitsanstalten aller Art anlegten. Das sind Zahlen, die sich gewiß vor aller Welt sehen lassen können, um so mehr, als alle diese Unsummen sicherlich nutzbringend verausgabt wurden, stärkten sie doch die weitesten Kreise unseres Volkes für den ständig härter werdenden Daseinskampf, beförderten sie doch Gesundheit und Leistungsfähigkeit der Massen, denen zweifelsohne zum guten Teile unser wirtschaftliches Vorankommen mit zu verdanken ist. So überzeugend wirkten die Wohlthaten der deutschen sozialen Gesetzgebung, daß das Ausland, wenn auch anfangs zögernd und widerstrebend, uns auf der beschrittenen Bahn folgte, ja, in den letzten Jahren mußten wir es gar erleben, daß uns England an einem Punkte überflügelte, wo wir uns stets ablehnend verhalten hatten — nämlich in der Arbeitslosenversicherung. ' Wenn so der eben erst vollendete Bau der deutschen Reichsversicherungs- ordnung und ihrer Ergänzungsgesetze den dringenden Wunsch auslöst, zuvörderst

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328733/89>, abgerufen am 27.07.2024.