Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Drittes Vierteljahr.Das slawische Aulturproblem von Dr. Dragutin prohaska I. iele hervorragende Gelehrte der Gegenwart haben die romantische Das slawische Aulturproblem von Dr. Dragutin prohaska I. iele hervorragende Gelehrte der Gegenwart haben die romantische <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0395" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/329129"/> <figure facs="http://media.dwds.de/dta/images/grenzboten_341899_328733/figures/grenzboten_341899_328733_329129_000.jpg"/><lb/> </div> <div n="1"> <head> Das slawische Aulturproblem<lb/><note type="byline"> von Dr. Dragutin prohaska</note></head><lb/> <div n="2"> <head> I.</head><lb/> <p xml:id="ID_1329" next="#ID_1330"> iele hervorragende Gelehrte der Gegenwart haben die romantische<lb/> Ansicht Herders verworfen, derzufolge die Slawen sich von den<lb/> Deutschen durch Sanftmut der Seele und gefühlvolle Passivität<lb/> des Charakters unterscheiden. Aber slawische Denker, die heute<lb/> das Slawentum erforschen, haben Feststellungen gemacht, die<lb/> nichts anderes besagen als feinere Unterscheidungen und Bestimmungen dessen,<lb/> was schon die Romantiker gefühlsmäßig erkannt haben. Die Romantiker:<lb/> Herder, und nach ihm der Tscheche Kolar, die Polen Mickiewicz und Hoene-<lb/> Wronsti, die Russen Chomjakow, die Brüder Kirejewski, Danilewski stellten die<lb/> Deutschen nicht aus nationalem Haß als Eroberer-Gewalt-Herren- und Krieger¬<lb/> naturen dar — zur Zeit der Romantik war der Nationalismus noch poetisch und<lb/> philosophisch, wurde also noch nicht vom politischen Egoismus regiert. Aber<lb/> die kritische Geschichtsforschung nach der Romantik nahm von einer derartigen<lb/> Beurteilung Abstand. Ja selbst die Poesie begann, nachdem sie einmal ihre<lb/> prophetische und ideelle Rolle aufgegeben und sich rein deskriptiven, naturalistischen<lb/> Zielen zugewendet hatte, tiefer in die Volksseele einzudringen. Und da geschah<lb/> es, daß mancher nüchterne Gelehrte und Künstler zu zweifeln begann, ob es<lb/> so etwas wie eine Volksseele überhaupt gibt, das heißt, ob ein Volk seelische<lb/> Grundzüge aufweist, durch die es sich von anderen Völkern unterscheidet und<lb/> — was wichtiger ist — ob es seine Geschichte diesen seinen Eigenheiten gemäß<lb/> ausgestaltet, ob endlich in seinem Leben ein Sinn zu entdecken ist. Einige<lb/> griffen den Gedanken auf, daß nicht die Völker ihre Geschichte bestimmen,<lb/> sondern große Einzelne (Macaulay, Emerson), andere erblickten im Klima, in<lb/> der ganzen Umwelt die Kräfte, welche die Völker und ihre Geschicke regieren<lb/> (Taine). Diese Theorien fanden feurige Anhänger und Gegner, das Problem<lb/> ist aber bis heute nicht gelöst. Diese Lösung wird um so schwieriger, je mehr<lb/> Material zu dieser Frage sich angehäuft hat, je komplizierter das Problem<lb/> selbst geworden ist. Aber das ist kein Grund, ihm auszuweichen. Umsonst<lb/> versucht man, es zu umgehen oder nicht zu sehen. Wer Geschichte schreibt, sühlt</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0395]
[Abbildung]
Das slawische Aulturproblem
von Dr. Dragutin prohaska
I.
iele hervorragende Gelehrte der Gegenwart haben die romantische
Ansicht Herders verworfen, derzufolge die Slawen sich von den
Deutschen durch Sanftmut der Seele und gefühlvolle Passivität
des Charakters unterscheiden. Aber slawische Denker, die heute
das Slawentum erforschen, haben Feststellungen gemacht, die
nichts anderes besagen als feinere Unterscheidungen und Bestimmungen dessen,
was schon die Romantiker gefühlsmäßig erkannt haben. Die Romantiker:
Herder, und nach ihm der Tscheche Kolar, die Polen Mickiewicz und Hoene-
Wronsti, die Russen Chomjakow, die Brüder Kirejewski, Danilewski stellten die
Deutschen nicht aus nationalem Haß als Eroberer-Gewalt-Herren- und Krieger¬
naturen dar — zur Zeit der Romantik war der Nationalismus noch poetisch und
philosophisch, wurde also noch nicht vom politischen Egoismus regiert. Aber
die kritische Geschichtsforschung nach der Romantik nahm von einer derartigen
Beurteilung Abstand. Ja selbst die Poesie begann, nachdem sie einmal ihre
prophetische und ideelle Rolle aufgegeben und sich rein deskriptiven, naturalistischen
Zielen zugewendet hatte, tiefer in die Volksseele einzudringen. Und da geschah
es, daß mancher nüchterne Gelehrte und Künstler zu zweifeln begann, ob es
so etwas wie eine Volksseele überhaupt gibt, das heißt, ob ein Volk seelische
Grundzüge aufweist, durch die es sich von anderen Völkern unterscheidet und
— was wichtiger ist — ob es seine Geschichte diesen seinen Eigenheiten gemäß
ausgestaltet, ob endlich in seinem Leben ein Sinn zu entdecken ist. Einige
griffen den Gedanken auf, daß nicht die Völker ihre Geschichte bestimmen,
sondern große Einzelne (Macaulay, Emerson), andere erblickten im Klima, in
der ganzen Umwelt die Kräfte, welche die Völker und ihre Geschicke regieren
(Taine). Diese Theorien fanden feurige Anhänger und Gegner, das Problem
ist aber bis heute nicht gelöst. Diese Lösung wird um so schwieriger, je mehr
Material zu dieser Frage sich angehäuft hat, je komplizierter das Problem
selbst geworden ist. Aber das ist kein Grund, ihm auszuweichen. Umsonst
versucht man, es zu umgehen oder nicht zu sehen. Wer Geschichte schreibt, sühlt
Informationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.
Weitere Informationen:Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur. Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (ꝛ): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja; Nachkorrektur erfolgte automatisch.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |