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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Drittes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

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Geist deS fremden Gedichtes hinein, weil es
verführt, die dichterische Offenbarung an ihrem
Ursprung aufzufangen,

Aber es kann auch anderen als rein ästhe¬
tischen Zwecken dienen, praktischen Zwecken.
Das zweisprachige Buch kann dem Sprachen¬
lernenden, der den Willen hat, über den Wort¬
schatz des täglichen Gebrauchs hinauszukommen
und in die geistigen Tiefen eines fremden
Idioms, eines fremden Volkes einzudringen,
ein trefflicher Helfer sein. Shakespeare ist
keine leichte Lektüre, aber an der Hand der
rechts stehenden Verdeutschung wird er auch
dem Lernenden aufgehen. Und mit wieviel
Gewinn I Die höchsten Dinge, wie die all¬
täglichsten, finden sich hier gesagt, der
sprühendste Wortwitz wechselt hier mit den
feierlichsten Akkorden, von breitester Prosa
springt die Sprache in den streng dis¬
ziplinierten Vers. Dabei welch unendliche
Gedankenfülle, wieviel Spruchweisheit, vom
Leben tausendmal bestätigt, in Formen ge¬
prägt, die nur dem Genie sich geben . . .
Dies alles entdeckend, erlebend, dauernd
in sich aufnehmend, beginnt der Lernende
einzusehen, daß Englischsprechen -- auf
ver Straße, im Hotel, im Geschäftsver¬
kehr -- und Englischlesen und -verstehen
zweierlei Dinge sind.

An die Stelle des Erlernens der Konver¬
sationssprache tritt ein allmähliches Eindringen
in die Literatursprache und in die ganze
Kultur des Volkes, das diese Literatur er¬
schaffen hat. Und manchem, der auf diesem
Wege vorwärts schreitet, mag zuletzt die
fremde Sprache wie eine gewonnene, herrliche
Seele sein, aus der er nur zu schöpfen braucht,
um Erquickuna, Freude und Genuß zu haben.

Warum ist das zweisprachige Buch heute
noch eine so seltene Erscheinung? Warum ist
uns noch kein zweisprachiger Dickens, kein
zweisprachiger Byron, warum noch nicht ein
Dante, ein Voltaire, ein Daudet in dieser
Doppelfassung, warum noch kein deutsch¬
französischer, deutsch-englischer Goethe und
Schiller beschert worden? Der Unternehmer¬
geist des deutschen Verlegertums hat hier,
oünkt mich, ein großes und fast noch un¬
bebautes Feld vor sichI Ein doppelsprachiges
Buch hat auch einen doppelten Markt, oder
wenigstens kann er ihm erworben werden,

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sollte man denken. Dabei läßt sich dieses
Geschäft mit dem Idealismus, den wir unseren
Werken so gerne ankleben, so schön verbinden.
Was zögert das deutsche Verlegertum noch?
Der Tempel-Verlag ist mit einem muster¬
gültigen Beispiel vorangegangen. Unsere
Zeit, die eine gemischt-sprachliche Kulturzone
von einheitlicher Farbe bereits geschaffen hat
und eine wirtschaftliche und politische Zone
von der gleichen Farbe der Entschließung
vielleicht noch einmal schaffen wird -- unsere
Zeit ist reif für fröhliche Nacheiferung.

Adolf Teutenberg
Naturwissenschaften

Der Streit um den Wert und die
Bedeutung des sprachlichen und natur¬
wissenschaftlichen Unterrichts an unseren
höheren Schulen hat zu Borträgen, Schriften
und Vereinigungen mannigfache Veranlassung
gegeben. Mitten hinein in diesen Streit
greift der bekannte Münchener Schulmann
G. Kerschensteiner mit seinem Buche "Wesen
und Wert des naturwissenschaftlichen Unter¬
richts" (B. G. Teubner, Leipzig und Berlin
1914. 141 Seiten. Preis geb. 3,60 M).
Er stellt sich die schwere Aufgabe, den Streit
zum Austrage zu bringen. Dazu ist zunächst
eine streng wissenschaftliche Untersuchung nötig,
die sich sowohl auf das Wesen deS philo¬
logischen als auch des naturwissenschaftlichen
Unterrichts erstreckt. Und die hat der Ver¬
fasser mit aller Gründlichkeit und Klarheit
auszuführen versucht.

Unter den Erziehungswcrten, die ein Unter¬
richtszweig vermitteln kann, ist die Erziehung
zum logischen Denken der am nächsten liegende
und auch der vornehmste. Deshalb wird auch
immer, wenn von der Wichtigkeit der klassischen
Sprachen für die Erziehung unserer Jugend
die Rede ist, darauf hingewiesen, daß sie
besser als jedes andere Instrument die
Fähigkeit des Denkens im Schüler entwickeln.
Der Verfasser spricht dieser stets wieder¬
kehrenden Behauptung durchaus nicht alle
Berechtigung ab. Er zeigt an einigen voll¬
ständig durchgeführten Beispielen, wie die
Beschäftigung mit den klassischen Sprachen
eine ganz ausgezeichnete geistige Zucht geben
kann. Auf dieses "kann" ist besonderer Nach¬
druck zu legen. Denn nicht unter allen Um--

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

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Geist deS fremden Gedichtes hinein, weil es
verführt, die dichterische Offenbarung an ihrem
Ursprung aufzufangen,

Aber es kann auch anderen als rein ästhe¬
tischen Zwecken dienen, praktischen Zwecken.
Das zweisprachige Buch kann dem Sprachen¬
lernenden, der den Willen hat, über den Wort¬
schatz des täglichen Gebrauchs hinauszukommen
und in die geistigen Tiefen eines fremden
Idioms, eines fremden Volkes einzudringen,
ein trefflicher Helfer sein. Shakespeare ist
keine leichte Lektüre, aber an der Hand der
rechts stehenden Verdeutschung wird er auch
dem Lernenden aufgehen. Und mit wieviel
Gewinn I Die höchsten Dinge, wie die all¬
täglichsten, finden sich hier gesagt, der
sprühendste Wortwitz wechselt hier mit den
feierlichsten Akkorden, von breitester Prosa
springt die Sprache in den streng dis¬
ziplinierten Vers. Dabei welch unendliche
Gedankenfülle, wieviel Spruchweisheit, vom
Leben tausendmal bestätigt, in Formen ge¬
prägt, die nur dem Genie sich geben . . .
Dies alles entdeckend, erlebend, dauernd
in sich aufnehmend, beginnt der Lernende
einzusehen, daß Englischsprechen — auf
ver Straße, im Hotel, im Geschäftsver¬
kehr — und Englischlesen und -verstehen
zweierlei Dinge sind.

An die Stelle des Erlernens der Konver¬
sationssprache tritt ein allmähliches Eindringen
in die Literatursprache und in die ganze
Kultur des Volkes, das diese Literatur er¬
schaffen hat. Und manchem, der auf diesem
Wege vorwärts schreitet, mag zuletzt die
fremde Sprache wie eine gewonnene, herrliche
Seele sein, aus der er nur zu schöpfen braucht,
um Erquickuna, Freude und Genuß zu haben.

Warum ist das zweisprachige Buch heute
noch eine so seltene Erscheinung? Warum ist
uns noch kein zweisprachiger Dickens, kein
zweisprachiger Byron, warum noch nicht ein
Dante, ein Voltaire, ein Daudet in dieser
Doppelfassung, warum noch kein deutsch¬
französischer, deutsch-englischer Goethe und
Schiller beschert worden? Der Unternehmer¬
geist des deutschen Verlegertums hat hier,
oünkt mich, ein großes und fast noch un¬
bebautes Feld vor sichI Ein doppelsprachiges
Buch hat auch einen doppelten Markt, oder
wenigstens kann er ihm erworben werden,

[Spaltenumbruch]

sollte man denken. Dabei läßt sich dieses
Geschäft mit dem Idealismus, den wir unseren
Werken so gerne ankleben, so schön verbinden.
Was zögert das deutsche Verlegertum noch?
Der Tempel-Verlag ist mit einem muster¬
gültigen Beispiel vorangegangen. Unsere
Zeit, die eine gemischt-sprachliche Kulturzone
von einheitlicher Farbe bereits geschaffen hat
und eine wirtschaftliche und politische Zone
von der gleichen Farbe der Entschließung
vielleicht noch einmal schaffen wird — unsere
Zeit ist reif für fröhliche Nacheiferung.

Adolf Teutenberg
Naturwissenschaften

Der Streit um den Wert und die
Bedeutung des sprachlichen und natur¬
wissenschaftlichen Unterrichts an unseren
höheren Schulen hat zu Borträgen, Schriften
und Vereinigungen mannigfache Veranlassung
gegeben. Mitten hinein in diesen Streit
greift der bekannte Münchener Schulmann
G. Kerschensteiner mit seinem Buche „Wesen
und Wert des naturwissenschaftlichen Unter¬
richts" (B. G. Teubner, Leipzig und Berlin
1914. 141 Seiten. Preis geb. 3,60 M).
Er stellt sich die schwere Aufgabe, den Streit
zum Austrage zu bringen. Dazu ist zunächst
eine streng wissenschaftliche Untersuchung nötig,
die sich sowohl auf das Wesen deS philo¬
logischen als auch des naturwissenschaftlichen
Unterrichts erstreckt. Und die hat der Ver¬
fasser mit aller Gründlichkeit und Klarheit
auszuführen versucht.

Unter den Erziehungswcrten, die ein Unter¬
richtszweig vermitteln kann, ist die Erziehung
zum logischen Denken der am nächsten liegende
und auch der vornehmste. Deshalb wird auch
immer, wenn von der Wichtigkeit der klassischen
Sprachen für die Erziehung unserer Jugend
die Rede ist, darauf hingewiesen, daß sie
besser als jedes andere Instrument die
Fähigkeit des Denkens im Schüler entwickeln.
Der Verfasser spricht dieser stets wieder¬
kehrenden Behauptung durchaus nicht alle
Berechtigung ab. Er zeigt an einigen voll¬
ständig durchgeführten Beispielen, wie die
Beschäftigung mit den klassischen Sprachen
eine ganz ausgezeichnete geistige Zucht geben
kann. Auf dieses „kann" ist besonderer Nach¬
druck zu legen. Denn nicht unter allen Um--

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328733/106>, abgerufen am 22.12.2024.