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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

[Beginn Spaltensatz]
Bildung und Erziehung
Nationale Idee und staatsbürgerliche

Erziehung.

Unsere Zeit glaubt wieder an
das Dogma von der Omnipotenz der Er¬
ziehung. Anders sind die Erscheinungen auf
dem Gebiete der Pädagogik nicht zu erklären.
Denn wer würde nach Erziehung in dieser
oder jener Hinsicht rufen, wenn er nicht
glaubte, der Übelstund würde dadurch ab¬
gestellt, wenn er nicht restlose Hilfe von der
Erziehung der Jugend erwartete I

Auf einem Gebiete wird die Forderung
nach einer Neugestaltung der Jugenderziehung
besonders laut und dringend erhoben, auf
dein der staatsbürgerlichen Erziehung. Und
es ist keineswegs zu leugnen, daß das Ver¬
ständnis für den Staat und seine Aufgaben
nicht im Verhältnis zur Entwicklung des
Staates und seiner Kräfte gewachsen ist. Wie
könnten sich sonst weite Volksschichten, ganze
Parteien der Einsicht verschließen, daß es
unter allen Umständen Pflicht des Staates
sein muß, sich einen gesunden, lebenskräftigen
Bauernstand zu erhalten und damit der Ver-
industrialisierung des Volles entgegenzu¬
arbeiten, daß es in anderer Hinsicht aber
auch nicht möglich ist, alle Pflichten, die
früher der einzelne auf sich nahm, auf den
Staat als den Allvaier zu werfen.

Die neue Staatsidee hat die Erziehung
in der Jugend lebendig zu machen. Was
tut es da, ob der Jüngling und die Jung¬

[Spaltenumbruch]

frau wissen, wie es in einer Gerichtsverhand¬
lung zugeht -- offen gestanden: man kann
ein ganz hervorragender Staatsbürger sein
und nie auch nur den Zipfel eines Richter¬
talars gesehen haben -- wie die Verhand¬
lungen in einer Stadtvätersitzung sich hin¬
schleppen oder rasch vorwärtsschreiten, welchen
Instanzenzug man bei einer Klage wegen
tätlicher Beleidigung einzuhalten hat. Das
alles ist meines Erachtens nicht maßgebend.
Das eine kann ich mir in meiner Phantasie
auf Grund von Mitteilungen Wohl ausmalen
-- oder ist die Phantasie unserer heutigen
Jugend so lendenlahm, daß sie da versagt? --;
das andere werde ich mir im gegebenen Falle
Wohl erarbeiten können. Es ist eine geradezu
verhängnisvolle Überschätzung des Wissens,
die aus derartigen Forderungen spricht.

Wie das Mädchen, das im letzten Schul¬
jahre im Haushaltungsunterricht Kochen ge¬
lernt hat, nach einer Geschäftstätigkeit von
sechs Jahren nicht mehr weiß, wie man ein
Schellfischlvtelett zurichtet, so findet sich auch
der junge Mann, der einen vorzüglichen
Staatsbürgsrunterricht genossen hat, in einer
bestimmten Rechtslage vollkommen von seiner
Weisheit verlassen.

Denn daran wollen wir trotz aller Pro¬
teste, trotz aller Neformierung gegen Parteien
und Individuen festhalten: den Staats¬
bürger macht nicht das Wissen vom
Staate, ihn macht das Stantsgefühl.
Ein echter deutscher Träumer, ein Schwärmer!

[Ende Spaltensatz]


Maßgebliches und Unmaßgebliches

[Beginn Spaltensatz]
Bildung und Erziehung
Nationale Idee und staatsbürgerliche

Erziehung.

Unsere Zeit glaubt wieder an
das Dogma von der Omnipotenz der Er¬
ziehung. Anders sind die Erscheinungen auf
dem Gebiete der Pädagogik nicht zu erklären.
Denn wer würde nach Erziehung in dieser
oder jener Hinsicht rufen, wenn er nicht
glaubte, der Übelstund würde dadurch ab¬
gestellt, wenn er nicht restlose Hilfe von der
Erziehung der Jugend erwartete I

Auf einem Gebiete wird die Forderung
nach einer Neugestaltung der Jugenderziehung
besonders laut und dringend erhoben, auf
dein der staatsbürgerlichen Erziehung. Und
es ist keineswegs zu leugnen, daß das Ver¬
ständnis für den Staat und seine Aufgaben
nicht im Verhältnis zur Entwicklung des
Staates und seiner Kräfte gewachsen ist. Wie
könnten sich sonst weite Volksschichten, ganze
Parteien der Einsicht verschließen, daß es
unter allen Umständen Pflicht des Staates
sein muß, sich einen gesunden, lebenskräftigen
Bauernstand zu erhalten und damit der Ver-
industrialisierung des Volles entgegenzu¬
arbeiten, daß es in anderer Hinsicht aber
auch nicht möglich ist, alle Pflichten, die
früher der einzelne auf sich nahm, auf den
Staat als den Allvaier zu werfen.

Die neue Staatsidee hat die Erziehung
in der Jugend lebendig zu machen. Was
tut es da, ob der Jüngling und die Jung¬

[Spaltenumbruch]

frau wissen, wie es in einer Gerichtsverhand¬
lung zugeht — offen gestanden: man kann
ein ganz hervorragender Staatsbürger sein
und nie auch nur den Zipfel eines Richter¬
talars gesehen haben — wie die Verhand¬
lungen in einer Stadtvätersitzung sich hin¬
schleppen oder rasch vorwärtsschreiten, welchen
Instanzenzug man bei einer Klage wegen
tätlicher Beleidigung einzuhalten hat. Das
alles ist meines Erachtens nicht maßgebend.
Das eine kann ich mir in meiner Phantasie
auf Grund von Mitteilungen Wohl ausmalen
— oder ist die Phantasie unserer heutigen
Jugend so lendenlahm, daß sie da versagt? —;
das andere werde ich mir im gegebenen Falle
Wohl erarbeiten können. Es ist eine geradezu
verhängnisvolle Überschätzung des Wissens,
die aus derartigen Forderungen spricht.

Wie das Mädchen, das im letzten Schul¬
jahre im Haushaltungsunterricht Kochen ge¬
lernt hat, nach einer Geschäftstätigkeit von
sechs Jahren nicht mehr weiß, wie man ein
Schellfischlvtelett zurichtet, so findet sich auch
der junge Mann, der einen vorzüglichen
Staatsbürgsrunterricht genossen hat, in einer
bestimmten Rechtslage vollkommen von seiner
Weisheit verlassen.

Denn daran wollen wir trotz aller Pro¬
teste, trotz aller Neformierung gegen Parteien
und Individuen festhalten: den Staats¬
bürger macht nicht das Wissen vom
Staate, ihn macht das Stantsgefühl.
Ein echter deutscher Träumer, ein Schwärmer!

[Ende Spaltensatz]
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[0536] [Abbildung] Maßgebliches und Unmaßgebliches Bildung und Erziehung Nationale Idee und staatsbürgerliche Erziehung. Unsere Zeit glaubt wieder an das Dogma von der Omnipotenz der Er¬ ziehung. Anders sind die Erscheinungen auf dem Gebiete der Pädagogik nicht zu erklären. Denn wer würde nach Erziehung in dieser oder jener Hinsicht rufen, wenn er nicht glaubte, der Übelstund würde dadurch ab¬ gestellt, wenn er nicht restlose Hilfe von der Erziehung der Jugend erwartete I Auf einem Gebiete wird die Forderung nach einer Neugestaltung der Jugenderziehung besonders laut und dringend erhoben, auf dein der staatsbürgerlichen Erziehung. Und es ist keineswegs zu leugnen, daß das Ver¬ ständnis für den Staat und seine Aufgaben nicht im Verhältnis zur Entwicklung des Staates und seiner Kräfte gewachsen ist. Wie könnten sich sonst weite Volksschichten, ganze Parteien der Einsicht verschließen, daß es unter allen Umständen Pflicht des Staates sein muß, sich einen gesunden, lebenskräftigen Bauernstand zu erhalten und damit der Ver- industrialisierung des Volles entgegenzu¬ arbeiten, daß es in anderer Hinsicht aber auch nicht möglich ist, alle Pflichten, die früher der einzelne auf sich nahm, auf den Staat als den Allvaier zu werfen. Die neue Staatsidee hat die Erziehung in der Jugend lebendig zu machen. Was tut es da, ob der Jüngling und die Jung¬ frau wissen, wie es in einer Gerichtsverhand¬ lung zugeht — offen gestanden: man kann ein ganz hervorragender Staatsbürger sein und nie auch nur den Zipfel eines Richter¬ talars gesehen haben — wie die Verhand¬ lungen in einer Stadtvätersitzung sich hin¬ schleppen oder rasch vorwärtsschreiten, welchen Instanzenzug man bei einer Klage wegen tätlicher Beleidigung einzuhalten hat. Das alles ist meines Erachtens nicht maßgebend. Das eine kann ich mir in meiner Phantasie auf Grund von Mitteilungen Wohl ausmalen — oder ist die Phantasie unserer heutigen Jugend so lendenlahm, daß sie da versagt? —; das andere werde ich mir im gegebenen Falle Wohl erarbeiten können. Es ist eine geradezu verhängnisvolle Überschätzung des Wissens, die aus derartigen Forderungen spricht. Wie das Mädchen, das im letzten Schul¬ jahre im Haushaltungsunterricht Kochen ge¬ lernt hat, nach einer Geschäftstätigkeit von sechs Jahren nicht mehr weiß, wie man ein Schellfischlvtelett zurichtet, so findet sich auch der junge Mann, der einen vorzüglichen Staatsbürgsrunterricht genossen hat, in einer bestimmten Rechtslage vollkommen von seiner Weisheit verlassen. Denn daran wollen wir trotz aller Pro¬ teste, trotz aller Neformierung gegen Parteien und Individuen festhalten: den Staats¬ bürger macht nicht das Wissen vom Staate, ihn macht das Stantsgefühl. Ein echter deutscher Träumer, ein Schwärmer!

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328099/536>, abgerufen am 13.11.2024.