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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

[Beginn Spaltensatz]

doch das Herz im Busen bewegen. Daß er
aber nichts, auch gar nichts anderes zu geben
vermag als die Äußerlichkeiten des über¬
lieferten Stoffes -- diese Leere und die Tat¬
sache, daß von dem, was er mit eigener Hand
Pflanzte, auch nicht ein einziges Korn zur
Reife gediehen ist: das macht traurig.
Odysseus kommt als Bettler heim, ist bald exal¬
tiert, bald blöde, hat nichts von dem listigen
und glänzenden Helden Homers behalten.
Und nichts wächst aus diesem Neuen, Eigenen
heran als etwa die schöne Szene, in der
Odysseus mit dem halbverkommenen Vater
Laertes in greisenhafter Ekstase tanzt und
gröste. Dann aber wird unbekümmert bei
Homer gelandet. Müde schleicht die Hand¬
lung zu ihrem Ende. Und am Schluß
bleiben Fragen in Fülle, die das Drama
nicht beantworten konnte und doch beant¬
worten mußte. So bleibt Penelopes Ver¬
halten, die nicht auf die Bühne kommt, aber
durch die zweideutigen Reden des Gesindes
des Ehebruchs verdächtigt wird, zu dem Heim-
gekehrten unberührt. Und da, wo es an¬
heben könnte, ist das Spiel zu Ende.

Den "Michael Kramer" sah ich neulich auf
einem armen kleinen Geschäftstheater; ge¬
spielt freilich von einem, der etwas zu geben
hatte in dieser Rolle. Das hat Hauptmann
einmal vermocht, vor vierzehn kurzen Jahren I
Hat damals so zeigen können, wie der Tod
zu reinigen vermag, was das Leben be¬
schmutzte. Das war einmal!

Weshalb ist das nicht noch? Weshalb
hat er uns gerade im Stich gelassen? Mehr
noch: weshalb haben wir unter denen, die
einst etwas versprachen und waren, keinen
einzigen, der den Erfolg vertragen konnte,
ohne Schaden zu nehmen an seiner Künstler¬
Dr. Fritz Reck-Malleczeroen schaft?

Teils altvertraute, teils längst verschollene,
nun neuerstandene Dichtungen sind es, die
uns in Will Bespers Sammlung "Der
deutsche Psalter. Ein Jahrtausend geist¬
licher Dichtung" (Verlag von Wilhelm Lange-
wiesche - Brandt, Ebenhausen bei München.
Im Pappbande 1,80 Mark) entgegentreten.
Von schlichten Versen unbekannter Dichter,
die aus fernen Jahrhunderten zu uns her¬
überklingen, über Gesänge des Reformations¬

[Spaltenumbruch]

zeitalters und der Romantik bis zu Friedrich
Nietzsches markiger Hymne, die er dem un¬
bekannten Gotte weiht, sührt uns das kleine
Buch und offenbart uns eine Fülle von
Schönheit. Zugleich ist es außerordentlich
lehrreich, diese geschickt ausgewählten Proben
christlich-religiöser Dichtung in die Hand zu
nehmen und den Abglanz religiöser Stimmung
während eines tausendjährigen Zeitlaufes auf
sich wirken zu lassen, denn ein Werden und
Wachsen des künstlerischen Könnens liegt hier
vor unseren Augen. Jede durch die Kirchen¬
spaltung oder das Sektenwesen bedingte
Tendenz ist in der Wahl und Zusammen¬
stellung der einzelnen Dichtungen vermieden.
Das Buch birgt wertvolles Gut für jeden
Freund einer Kunst, die nichts mehr sein will
als der schlichte Ausdruck eines wahren Ge¬
* fühls.

Philosophie

Selten hat ein Laienprediger die Ab¬
lehnung von feiten der Zunft so sehr den
lächerlichen Übertreibungen seiner eigenen
Streitführung zuzuschreiben gehabt wie Fritz
Mauthner. ES gehört schon ein sehr guter
Wille dazu, sich durch das "hochmütig-demütige"
Abschiedswort der zweiten Auslage seiner
"Beitrage zu einer Kritik der Sprache",
Teil III: Zur Grammatik und Logik (Stutt¬
gart und Berlin. I. G. Cotta) hindurchzulesen
und dabei nicht den Willen zu verlieren, von
diesem eitlen, immer sich selbst in den Vorder¬
grund stellenden Gelehrten zu lernen. Zwar
ist in dieser neuen Auflage des dritten Teils
wieder wie in der des zweiten Teils, den ich den
Lesern im achten Heft des vorigen Jahrgangs
anzeigte, manches heftige Wort fortgelassen;
aber es find noch genug jener dumpfen, stuben¬
grämlichen Lufthiebe gegen eingebildete Feinde
übriggeblieben, an denen Mauthners Werk so
überreich ist.

Und doch wäre es falsch, wollte man der
Unlust, diesem subjektiven Führer zu folgen,
nachgeben. Es ist immer deutsche Art ge¬
wesen, von der Schale auf den Kern zu
gehen. Das hat uns noch unlängst der greise
französische Philosoph Boutroux nachgerühmt.
Darum hatte die Zunft auch nicht das Recht,
den klugen Laien beiseite zu schieben, so un¬
gebärdig er sich auch stellte.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

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doch das Herz im Busen bewegen. Daß er
aber nichts, auch gar nichts anderes zu geben
vermag als die Äußerlichkeiten des über¬
lieferten Stoffes — diese Leere und die Tat¬
sache, daß von dem, was er mit eigener Hand
Pflanzte, auch nicht ein einziges Korn zur
Reife gediehen ist: das macht traurig.
Odysseus kommt als Bettler heim, ist bald exal¬
tiert, bald blöde, hat nichts von dem listigen
und glänzenden Helden Homers behalten.
Und nichts wächst aus diesem Neuen, Eigenen
heran als etwa die schöne Szene, in der
Odysseus mit dem halbverkommenen Vater
Laertes in greisenhafter Ekstase tanzt und
gröste. Dann aber wird unbekümmert bei
Homer gelandet. Müde schleicht die Hand¬
lung zu ihrem Ende. Und am Schluß
bleiben Fragen in Fülle, die das Drama
nicht beantworten konnte und doch beant¬
worten mußte. So bleibt Penelopes Ver¬
halten, die nicht auf die Bühne kommt, aber
durch die zweideutigen Reden des Gesindes
des Ehebruchs verdächtigt wird, zu dem Heim-
gekehrten unberührt. Und da, wo es an¬
heben könnte, ist das Spiel zu Ende.

Den „Michael Kramer" sah ich neulich auf
einem armen kleinen Geschäftstheater; ge¬
spielt freilich von einem, der etwas zu geben
hatte in dieser Rolle. Das hat Hauptmann
einmal vermocht, vor vierzehn kurzen Jahren I
Hat damals so zeigen können, wie der Tod
zu reinigen vermag, was das Leben be¬
schmutzte. Das war einmal!

Weshalb ist das nicht noch? Weshalb
hat er uns gerade im Stich gelassen? Mehr
noch: weshalb haben wir unter denen, die
einst etwas versprachen und waren, keinen
einzigen, der den Erfolg vertragen konnte,
ohne Schaden zu nehmen an seiner Künstler¬
Dr. Fritz Reck-Malleczeroen schaft?

Teils altvertraute, teils längst verschollene,
nun neuerstandene Dichtungen sind es, die
uns in Will Bespers Sammlung „Der
deutsche Psalter. Ein Jahrtausend geist¬
licher Dichtung" (Verlag von Wilhelm Lange-
wiesche - Brandt, Ebenhausen bei München.
Im Pappbande 1,80 Mark) entgegentreten.
Von schlichten Versen unbekannter Dichter,
die aus fernen Jahrhunderten zu uns her¬
überklingen, über Gesänge des Reformations¬

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zeitalters und der Romantik bis zu Friedrich
Nietzsches markiger Hymne, die er dem un¬
bekannten Gotte weiht, sührt uns das kleine
Buch und offenbart uns eine Fülle von
Schönheit. Zugleich ist es außerordentlich
lehrreich, diese geschickt ausgewählten Proben
christlich-religiöser Dichtung in die Hand zu
nehmen und den Abglanz religiöser Stimmung
während eines tausendjährigen Zeitlaufes auf
sich wirken zu lassen, denn ein Werden und
Wachsen des künstlerischen Könnens liegt hier
vor unseren Augen. Jede durch die Kirchen¬
spaltung oder das Sektenwesen bedingte
Tendenz ist in der Wahl und Zusammen¬
stellung der einzelnen Dichtungen vermieden.
Das Buch birgt wertvolles Gut für jeden
Freund einer Kunst, die nichts mehr sein will
als der schlichte Ausdruck eines wahren Ge¬
* fühls.

Philosophie

Selten hat ein Laienprediger die Ab¬
lehnung von feiten der Zunft so sehr den
lächerlichen Übertreibungen seiner eigenen
Streitführung zuzuschreiben gehabt wie Fritz
Mauthner. ES gehört schon ein sehr guter
Wille dazu, sich durch das „hochmütig-demütige"
Abschiedswort der zweiten Auslage seiner
„Beitrage zu einer Kritik der Sprache",
Teil III: Zur Grammatik und Logik (Stutt¬
gart und Berlin. I. G. Cotta) hindurchzulesen
und dabei nicht den Willen zu verlieren, von
diesem eitlen, immer sich selbst in den Vorder¬
grund stellenden Gelehrten zu lernen. Zwar
ist in dieser neuen Auflage des dritten Teils
wieder wie in der des zweiten Teils, den ich den
Lesern im achten Heft des vorigen Jahrgangs
anzeigte, manches heftige Wort fortgelassen;
aber es find noch genug jener dumpfen, stuben¬
grämlichen Lufthiebe gegen eingebildete Feinde
übriggeblieben, an denen Mauthners Werk so
überreich ist.

Und doch wäre es falsch, wollte man der
Unlust, diesem subjektiven Führer zu folgen,
nachgeben. Es ist immer deutsche Art ge¬
wesen, von der Schale auf den Kern zu
gehen. Das hat uns noch unlängst der greise
französische Philosoph Boutroux nachgerühmt.
Darum hatte die Zunft auch nicht das Recht,
den klugen Laien beiseite zu schieben, so un¬
gebärdig er sich auch stellte.

[Ende Spaltensatz]
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328099/491>, abgerufen am 13.11.2024.