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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr.

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ihrer Volksart so gar wenig einem "zentralistischen" Streben geneigt, daß ein
Zusammenschweißen der zersprengten Stücke ein Ding der Unmöglichkeit wäre.
Ein Imperialismus kann nur das Ziel einer deutschen Reichspolitik, niemals
aber das Ziel einer deutschen Volkspolitik sein.

Aber welchen Sinn könnte dann eine großdeutsche Politik über oder neben
der Staatspolitik haben?

Das zu verstehen, müssen wir uns die Lage der deutschen "Heimat", des
"Mutterlandes" verdeutlichen.


3.

Nehmen wir an, die auswärtige deutsche Politik ginge wirklich, wie man
ihr oft unterschiebt, auf Eroberungen aus. Wohin sie sich auch immer in der
Welt wenden würde, sie stieße wenigstens auf drei entgegenstehende Mächte:
Rußland, England und Frankreich -- abgesehen von all den kleineren Staaten,
die sich vor dem "Verschlungenwerden" fürchten. Was bei einem Zusammenstoß
mit diesen Mächten eintreten wird -- wenn er je irgendwie erfolgt -- kann
niemand sagen. Wir können hier nur aus der großen Zahl der wirkenden
Kräfte und der Tatsachen, die die Geschichte mitbestimmen, einige wenige heraus¬
greifen und aus ihnen auf zukünftige Möglichkeiten schließen. Es sei aus¬
drücklich hervorgehoben, daß wir hier nicht Zukunftsbilder zeichnen, sondern
nur mögliche Vorstellungsreihen gewinnen wollen, die uns zu einer Klärung
bestimmter Begriffe helfen können.

Nach der allgemeinen Anschauung ist von jenen drei Mächten Frankreich am
vollständigsten "besiegbar". Durch seine Bündnispolitik gibt es das selbst zu.
Setzen wir nun den Fall einer französischen Niederlage; was wäre damit für
uns gewonnen? Der naive Eroberungsgedanke, ein Stück französischen Landes
und Volkes "wegzunehmen", ist heute unmöglich. Feindesland innerhalb der
Staatsgrenzen ist schlimmer als außerhalb der Staatsgrenzen, es führt zu
unendlichen Verwicklungen, Stockungen und Unsicherheiten, die auf das Staats¬
ganze verhängnisvoll zurückwirken können. Zudem: ein großes, in einem Staats¬
wesen kristallisiertes Kulturvolk läßt sich nicht aus der Geschichte auslöschen oder
auch nur wesentlich verstümmeln. Das mußte selbst Napoleon bei dem staatlich
so unzulänglich organisierten deutschen Volk erfahren. Es wäre nicht ratsam,
an Frankreich den Versuch zu wiederholen, ob ein seiner selbst bewußtes Volk
nicht gerade durch einen Angriff auf seine Daseinsbedingungen neue Kräfte
gewinnt. Man sagt: wir könnten uns der französischen Siedelungsländer be¬
mächtigen. Wir? Wie einst der preußische Sieg über Österreich Venetien
italienisch machte, so wird ein deutscher Sieg über Frankreich zweifellos Tunis
und vielleicht einen Teil Marokkos italienisch machen. Aber wenn Deutschland
selbst sich irgendwo draußen festsetzen wollte, müßte es erst den englischen Wider¬
stand brechen.

Aber an einen völligen "Sieg" über England glaubt heute wohl kein
Deutscher. Es wird allgemein zugestanden, daß unsere Flotte, soweit ihre Stärke


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ihrer Volksart so gar wenig einem „zentralistischen" Streben geneigt, daß ein
Zusammenschweißen der zersprengten Stücke ein Ding der Unmöglichkeit wäre.
Ein Imperialismus kann nur das Ziel einer deutschen Reichspolitik, niemals
aber das Ziel einer deutschen Volkspolitik sein.

Aber welchen Sinn könnte dann eine großdeutsche Politik über oder neben
der Staatspolitik haben?

Das zu verstehen, müssen wir uns die Lage der deutschen „Heimat", des
„Mutterlandes" verdeutlichen.


3.

Nehmen wir an, die auswärtige deutsche Politik ginge wirklich, wie man
ihr oft unterschiebt, auf Eroberungen aus. Wohin sie sich auch immer in der
Welt wenden würde, sie stieße wenigstens auf drei entgegenstehende Mächte:
Rußland, England und Frankreich — abgesehen von all den kleineren Staaten,
die sich vor dem „Verschlungenwerden" fürchten. Was bei einem Zusammenstoß
mit diesen Mächten eintreten wird — wenn er je irgendwie erfolgt — kann
niemand sagen. Wir können hier nur aus der großen Zahl der wirkenden
Kräfte und der Tatsachen, die die Geschichte mitbestimmen, einige wenige heraus¬
greifen und aus ihnen auf zukünftige Möglichkeiten schließen. Es sei aus¬
drücklich hervorgehoben, daß wir hier nicht Zukunftsbilder zeichnen, sondern
nur mögliche Vorstellungsreihen gewinnen wollen, die uns zu einer Klärung
bestimmter Begriffe helfen können.

Nach der allgemeinen Anschauung ist von jenen drei Mächten Frankreich am
vollständigsten „besiegbar". Durch seine Bündnispolitik gibt es das selbst zu.
Setzen wir nun den Fall einer französischen Niederlage; was wäre damit für
uns gewonnen? Der naive Eroberungsgedanke, ein Stück französischen Landes
und Volkes „wegzunehmen", ist heute unmöglich. Feindesland innerhalb der
Staatsgrenzen ist schlimmer als außerhalb der Staatsgrenzen, es führt zu
unendlichen Verwicklungen, Stockungen und Unsicherheiten, die auf das Staats¬
ganze verhängnisvoll zurückwirken können. Zudem: ein großes, in einem Staats¬
wesen kristallisiertes Kulturvolk läßt sich nicht aus der Geschichte auslöschen oder
auch nur wesentlich verstümmeln. Das mußte selbst Napoleon bei dem staatlich
so unzulänglich organisierten deutschen Volk erfahren. Es wäre nicht ratsam,
an Frankreich den Versuch zu wiederholen, ob ein seiner selbst bewußtes Volk
nicht gerade durch einen Angriff auf seine Daseinsbedingungen neue Kräfte
gewinnt. Man sagt: wir könnten uns der französischen Siedelungsländer be¬
mächtigen. Wir? Wie einst der preußische Sieg über Österreich Venetien
italienisch machte, so wird ein deutscher Sieg über Frankreich zweifellos Tunis
und vielleicht einen Teil Marokkos italienisch machen. Aber wenn Deutschland
selbst sich irgendwo draußen festsetzen wollte, müßte es erst den englischen Wider¬
stand brechen.

Aber an einen völligen „Sieg" über England glaubt heute wohl kein
Deutscher. Es wird allgemein zugestanden, daß unsere Flotte, soweit ihre Stärke


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328099/112>, abgerufen am 04.07.2024.