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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr.

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Realpolitik im Mittelmeer

or zehn Jahren schrieb Nerv Piron in seinem Buche "I'Lmpire
alö la Neciiterranüs": "Die beste Garantie für die Dauer guter
Beziehungen zwischen Frankreich und Italien wäre, daß Tripolis
lürüsch bliebe. Die Begründung einer italienischen Kolonie an
der Grenze von Tunis bedeute eine Gefahr für Frankreich; eine
Grenznachbarschaft mit Italien in Afrika würde die so mühsam hergestellte
Freundschaft der beiden "romanischen Schwestern" untergraben; wenn die tripo-
litanische Küste und damit die Endpunkte der Karawanen Straßen aus dem fran¬
zösischen Hinterland in die Hände Italiens fielen, so würden die Franzosen die
Wirkungen bis tief in die Sahara hinein spüren." -- Eine ähnliche Ansicht
äußerte der frühere französische Minister Gabriel Hanotaux, der im Februar
1912 im Figaro schrieb, die italienische Okkupation von Tripolis eröffne einen
schweren Konflikt zwischen Italien und Frankreich.

Die Entente zwischen Italien und Frankreich besteht nicht mehr. Nicht
nur, daß ihre Ziele -- die Erwerbung Marokkos sür Frankreich und Tripo-
litaniens für Italien -- erreicht sind, und daß damit der positive Inhalt der
Entente weggefallen ist: an die Stelle des bisherigen Freundschaftsverhältnisses
ist ein Zustand des Gegensatzes und der Rivalität getreten. Nach der letzten
Rede San Guiiianos in der italienischen Kammer (am 16. Dezember) sagte
der Pariser Temps rund heraus, die frühere Entente zwischen den beiden
Mittelmeermächten besitze keine Realität mehr. Unrecht hatte der Temps nur.
wenn er, wie er es zuweilen zu tun liebt, zugleich im Namen Englands sprach
und auch die Entente zwischen Italien und England für beendet erklärte.

Italien ist seit seiner politischen Einigung schon allein durch seine geographischen
Daseinsbedingungen auf das Mittelmeer hingewiesen. Bereits die italienischen
EinheitMmpfer, die Männer des "Nisorgimento" und des "Jungen Italiens",
hatten an eine italienische Mittelmeerherrschaft und zugleich an eine Unter¬
werfung Nordafrikas gedacht. Eine italienische Mittelmeerpolitik bedeutete von
Anfang an: Unabhängigkeit von Frankreich. Eine unmittelbare Wirkung seiner
politischen Einigung war es, daß Italien alsbald den Franzosen in Tunis mit
größerer Energie entgegentrat. Daß Tunis dennoch an Frankreich fiel, war
für Italien ein schwerer Schlag, uno als Crispi Ministerpräsident wurde, faßte
er den Plan, für Italien Tripolis zu erwerben. Besonders wichtig war ihm
der Besitz der tripolitanischen Küste, denn wenn Frankreich sich auch dort fest-




Realpolitik im Mittelmeer

or zehn Jahren schrieb Nerv Piron in seinem Buche „I'Lmpire
alö la Neciiterranüs": „Die beste Garantie für die Dauer guter
Beziehungen zwischen Frankreich und Italien wäre, daß Tripolis
lürüsch bliebe. Die Begründung einer italienischen Kolonie an
der Grenze von Tunis bedeute eine Gefahr für Frankreich; eine
Grenznachbarschaft mit Italien in Afrika würde die so mühsam hergestellte
Freundschaft der beiden „romanischen Schwestern" untergraben; wenn die tripo-
litanische Küste und damit die Endpunkte der Karawanen Straßen aus dem fran¬
zösischen Hinterland in die Hände Italiens fielen, so würden die Franzosen die
Wirkungen bis tief in die Sahara hinein spüren." — Eine ähnliche Ansicht
äußerte der frühere französische Minister Gabriel Hanotaux, der im Februar
1912 im Figaro schrieb, die italienische Okkupation von Tripolis eröffne einen
schweren Konflikt zwischen Italien und Frankreich.

Die Entente zwischen Italien und Frankreich besteht nicht mehr. Nicht
nur, daß ihre Ziele — die Erwerbung Marokkos sür Frankreich und Tripo-
litaniens für Italien — erreicht sind, und daß damit der positive Inhalt der
Entente weggefallen ist: an die Stelle des bisherigen Freundschaftsverhältnisses
ist ein Zustand des Gegensatzes und der Rivalität getreten. Nach der letzten
Rede San Guiiianos in der italienischen Kammer (am 16. Dezember) sagte
der Pariser Temps rund heraus, die frühere Entente zwischen den beiden
Mittelmeermächten besitze keine Realität mehr. Unrecht hatte der Temps nur.
wenn er, wie er es zuweilen zu tun liebt, zugleich im Namen Englands sprach
und auch die Entente zwischen Italien und England für beendet erklärte.

Italien ist seit seiner politischen Einigung schon allein durch seine geographischen
Daseinsbedingungen auf das Mittelmeer hingewiesen. Bereits die italienischen
EinheitMmpfer, die Männer des „Nisorgimento" und des „Jungen Italiens",
hatten an eine italienische Mittelmeerherrschaft und zugleich an eine Unter¬
werfung Nordafrikas gedacht. Eine italienische Mittelmeerpolitik bedeutete von
Anfang an: Unabhängigkeit von Frankreich. Eine unmittelbare Wirkung seiner
politischen Einigung war es, daß Italien alsbald den Franzosen in Tunis mit
größerer Energie entgegentrat. Daß Tunis dennoch an Frankreich fiel, war
für Italien ein schwerer Schlag, uno als Crispi Ministerpräsident wurde, faßte
er den Plan, für Italien Tripolis zu erwerben. Besonders wichtig war ihm
der Besitz der tripolitanischen Küste, denn wenn Frankreich sich auch dort fest-


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[0076] [Abbildung] Realpolitik im Mittelmeer or zehn Jahren schrieb Nerv Piron in seinem Buche „I'Lmpire alö la Neciiterranüs": „Die beste Garantie für die Dauer guter Beziehungen zwischen Frankreich und Italien wäre, daß Tripolis lürüsch bliebe. Die Begründung einer italienischen Kolonie an der Grenze von Tunis bedeute eine Gefahr für Frankreich; eine Grenznachbarschaft mit Italien in Afrika würde die so mühsam hergestellte Freundschaft der beiden „romanischen Schwestern" untergraben; wenn die tripo- litanische Küste und damit die Endpunkte der Karawanen Straßen aus dem fran¬ zösischen Hinterland in die Hände Italiens fielen, so würden die Franzosen die Wirkungen bis tief in die Sahara hinein spüren." — Eine ähnliche Ansicht äußerte der frühere französische Minister Gabriel Hanotaux, der im Februar 1912 im Figaro schrieb, die italienische Okkupation von Tripolis eröffne einen schweren Konflikt zwischen Italien und Frankreich. Die Entente zwischen Italien und Frankreich besteht nicht mehr. Nicht nur, daß ihre Ziele — die Erwerbung Marokkos sür Frankreich und Tripo- litaniens für Italien — erreicht sind, und daß damit der positive Inhalt der Entente weggefallen ist: an die Stelle des bisherigen Freundschaftsverhältnisses ist ein Zustand des Gegensatzes und der Rivalität getreten. Nach der letzten Rede San Guiiianos in der italienischen Kammer (am 16. Dezember) sagte der Pariser Temps rund heraus, die frühere Entente zwischen den beiden Mittelmeermächten besitze keine Realität mehr. Unrecht hatte der Temps nur. wenn er, wie er es zuweilen zu tun liebt, zugleich im Namen Englands sprach und auch die Entente zwischen Italien und England für beendet erklärte. Italien ist seit seiner politischen Einigung schon allein durch seine geographischen Daseinsbedingungen auf das Mittelmeer hingewiesen. Bereits die italienischen EinheitMmpfer, die Männer des „Nisorgimento" und des „Jungen Italiens", hatten an eine italienische Mittelmeerherrschaft und zugleich an eine Unter¬ werfung Nordafrikas gedacht. Eine italienische Mittelmeerpolitik bedeutete von Anfang an: Unabhängigkeit von Frankreich. Eine unmittelbare Wirkung seiner politischen Einigung war es, daß Italien alsbald den Franzosen in Tunis mit größerer Energie entgegentrat. Daß Tunis dennoch an Frankreich fiel, war für Italien ein schwerer Schlag, uno als Crispi Ministerpräsident wurde, faßte er den Plan, für Italien Tripolis zu erwerben. Besonders wichtig war ihm der Besitz der tripolitanischen Küste, denn wenn Frankreich sich auch dort fest-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_327465/76>, abgerufen am 28.12.2024.