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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

[Beginn Spaltensatz]

Vereinsamung Nietzsches mit Vorliebe als Folge
äußerer Umstände dar und entwickelt dabei
-- man kann es nicht anders nennen -- eine
fast altjüngferlich anmutende Art des historischen
Sinnes. Sie stellt die Trennung und den
Abfall der Freunde Nietzsches in den meisten
Fällen nicht nur als Resultat eines Ver¬
schuldens und mangelnden Verständnisses eben
dieser Freunde hin -- das ist für Elisabeth
Förster-Nietzsche selbstverständlich --, sondern
vielfach sogar als das Resultat böswilliger
Intriguen von feiten falscher und minder¬
wertiger Freunde. Sie führt uns mit un¬
erbittlicher Hand hinter die Kulissen der Ge¬
sellschaft, in der Nietzsche lebte, sie verschont
uns nicht mit dem Bekannten-, ja dem Alt¬
weiberklatsch: "Frau Soundso hat mir ge¬
sagt", "Frau X soll gesagt haben", "Herr Ge-
hoimrcit U hat an jemand geschrieben" --
das ist der Stil dieser Geschichtsschreibung.
Bezeichnend für diesen Stil ist der Haß gegen
Frau Overbeck. Sie erscheint Frau Förster-
Nietzsche als der böse Geist, oder sagen wir
besser, als die böse Zunge, der Nietzsche zum
Opfer gefallen ist.

Es soll nicht geleugnet werden, daß auch
diese Geschichten schließlich eine gewisse Be¬
deutung haben für das Verständnis von
Nietzsches Leben. Gerade das Kleine und
Kleinliche spielt ja oft in dem Leben der
größten Geister eine verhängnisvolle Rolle.
Das geht doch aber nicht an, daß man die
Lebensschilderung eines Großen auf diesen
Leisten zuschreitet. Elisabeth Förster-Nietzsche
bemüht sich, ihren Bruder zu verteidigen und
zu verklären, und sie merkt es gar nicht, wie
sehr sie ihn durch diese Art der Verteidigung
erniedrigt.

Die Lösung für das psychologische Pro¬
blem, das uns der "einsame Nietzsche" bietet,
der Psychologische Grund für seine Verein¬
samung liegt ganz wo anders, er liegt viel¬
leicht auf einem Gebiete, das Frau Elisabeth
Förster-Nietzsche nicht im entferntesten ahnt.
Sie würde sich auch, so glaube ich, mit Händen
und Füßen sträuben, wenn man sie auf dieses
Dr. ZV. ZVarstat Gebiet führen wollte.

Fredöric Godet (1812 -- 1900).

Von
Philippe Godet. Neuchatel, Altinger Fröres
1913.

[Spaltenumbruch]

Ist es eine Eigentümlichkeit unserer Zeit,
die sich in dem schönen Satze Maeterlincks
aussprach: "Ich habe es längst aufgegeben,
etwas Schöneres zu suchen als die Wahrheit."?
Wenn dem so ist, so darf das inhaltreiche
Memoirenwerk, das der beredte Romanist der
jüngsten Schweizer Universität, Philippe Godet
in Neuchatel mit der gestaltend auswählenden
Hand des erfahrenen Künstlers und dem
kritischen Blick des Historikers aus dem Lebens¬
stoff seines Baders aufgebaut hat, auf eine Leser¬
gemeinde weit über den Umkreis der theologisch
oder lokal Interessierten hinaus rechnen. Denn
dieses Buch ist wahr, das ist sein erstes
Charakteristikon; nicht allein wahr in jenem
gleichgültigen Sinne des wirklichen Geschehens,
sondern wahr, weil es die Einzelheiten eines
innerlich reichen Lebens im Zusammenhang
einer Epoche, in der notwendigen, wahren
Proportion der Dinge überblickt.

Frederic Godet kam als junger Theologe
aus dem einstigen Preußischen Fürstentum
Neuchatel als Erzieher des Prinzen Friedrich
Wilhelm nach Berlin ins königliche Haus.
Sein offener, empfänglicher Geist empfing da
die Anregungen der führenden Geister moderner
deutsch-protestantischer Theologie, namentlich
Schleiermachers, Steffens, Neanders u. a.
Vom Herbst 1838 bis Herbst 1844 leitete er
in Babelsberg und Potsdam die Erziehung
und den Unterricht des jungen Prinzen und
seines Spiel- und Studienkameraden von
Jastrow. Einem innig-freundschaftlichen
Verhältnis hat Godet in diesen Jahren den
Grund gelegt, das bis an den Tod des Kaisers
Friedrichs des Dritten ungestört fortgedauert, als
am 16. Juni 1888 Godet von der Kaiserin-Witwe
das Telegramm erhielt: "vsns ins clouleur
sans bornes, mes pensess vont K vous.
Vous eomprenäre? ce que issoukkre; votre
ooeur ssrs brise suffi, ehr vous l'^ve?
sine et vous le pleure? comme nous.
Victoria, Imperatrice, Keine cle prusse."
Tatsächlich hatte diese Freundschaft eines auf¬
rechten Mannes zu seinem früheren Zögling
nichts gemein mit jener salbungsvollen, be¬
lehrenden Untertänigkeit, die den üblichen
Hofmeister kennzeichnet. Die Briefe, die uns
der Verfasser aus seines Vaters Nachlaß mit¬
teilt, haben nur deshalb die Gewalt der
Vergegenwärtigung, weil sie solcher Elemente

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

[Beginn Spaltensatz]

Vereinsamung Nietzsches mit Vorliebe als Folge
äußerer Umstände dar und entwickelt dabei
— man kann es nicht anders nennen — eine
fast altjüngferlich anmutende Art des historischen
Sinnes. Sie stellt die Trennung und den
Abfall der Freunde Nietzsches in den meisten
Fällen nicht nur als Resultat eines Ver¬
schuldens und mangelnden Verständnisses eben
dieser Freunde hin — das ist für Elisabeth
Förster-Nietzsche selbstverständlich —, sondern
vielfach sogar als das Resultat böswilliger
Intriguen von feiten falscher und minder¬
wertiger Freunde. Sie führt uns mit un¬
erbittlicher Hand hinter die Kulissen der Ge¬
sellschaft, in der Nietzsche lebte, sie verschont
uns nicht mit dem Bekannten-, ja dem Alt¬
weiberklatsch: „Frau Soundso hat mir ge¬
sagt", „Frau X soll gesagt haben", „Herr Ge-
hoimrcit U hat an jemand geschrieben" —
das ist der Stil dieser Geschichtsschreibung.
Bezeichnend für diesen Stil ist der Haß gegen
Frau Overbeck. Sie erscheint Frau Förster-
Nietzsche als der böse Geist, oder sagen wir
besser, als die böse Zunge, der Nietzsche zum
Opfer gefallen ist.

Es soll nicht geleugnet werden, daß auch
diese Geschichten schließlich eine gewisse Be¬
deutung haben für das Verständnis von
Nietzsches Leben. Gerade das Kleine und
Kleinliche spielt ja oft in dem Leben der
größten Geister eine verhängnisvolle Rolle.
Das geht doch aber nicht an, daß man die
Lebensschilderung eines Großen auf diesen
Leisten zuschreitet. Elisabeth Förster-Nietzsche
bemüht sich, ihren Bruder zu verteidigen und
zu verklären, und sie merkt es gar nicht, wie
sehr sie ihn durch diese Art der Verteidigung
erniedrigt.

Die Lösung für das psychologische Pro¬
blem, das uns der „einsame Nietzsche" bietet,
der Psychologische Grund für seine Verein¬
samung liegt ganz wo anders, er liegt viel¬
leicht auf einem Gebiete, das Frau Elisabeth
Förster-Nietzsche nicht im entferntesten ahnt.
Sie würde sich auch, so glaube ich, mit Händen
und Füßen sträuben, wenn man sie auf dieses
Dr. ZV. ZVarstat Gebiet führen wollte.

Fredöric Godet (1812 — 1900).

Von
Philippe Godet. Neuchatel, Altinger Fröres
1913.

[Spaltenumbruch]

Ist es eine Eigentümlichkeit unserer Zeit,
die sich in dem schönen Satze Maeterlincks
aussprach: „Ich habe es längst aufgegeben,
etwas Schöneres zu suchen als die Wahrheit."?
Wenn dem so ist, so darf das inhaltreiche
Memoirenwerk, das der beredte Romanist der
jüngsten Schweizer Universität, Philippe Godet
in Neuchatel mit der gestaltend auswählenden
Hand des erfahrenen Künstlers und dem
kritischen Blick des Historikers aus dem Lebens¬
stoff seines Baders aufgebaut hat, auf eine Leser¬
gemeinde weit über den Umkreis der theologisch
oder lokal Interessierten hinaus rechnen. Denn
dieses Buch ist wahr, das ist sein erstes
Charakteristikon; nicht allein wahr in jenem
gleichgültigen Sinne des wirklichen Geschehens,
sondern wahr, weil es die Einzelheiten eines
innerlich reichen Lebens im Zusammenhang
einer Epoche, in der notwendigen, wahren
Proportion der Dinge überblickt.

Frederic Godet kam als junger Theologe
aus dem einstigen Preußischen Fürstentum
Neuchatel als Erzieher des Prinzen Friedrich
Wilhelm nach Berlin ins königliche Haus.
Sein offener, empfänglicher Geist empfing da
die Anregungen der führenden Geister moderner
deutsch-protestantischer Theologie, namentlich
Schleiermachers, Steffens, Neanders u. a.
Vom Herbst 1838 bis Herbst 1844 leitete er
in Babelsberg und Potsdam die Erziehung
und den Unterricht des jungen Prinzen und
seines Spiel- und Studienkameraden von
Jastrow. Einem innig-freundschaftlichen
Verhältnis hat Godet in diesen Jahren den
Grund gelegt, das bis an den Tod des Kaisers
Friedrichs des Dritten ungestört fortgedauert, als
am 16. Juni 1888 Godet von der Kaiserin-Witwe
das Telegramm erhielt: »vsns ins clouleur
sans bornes, mes pensess vont K vous.
Vous eomprenäre? ce que issoukkre; votre
ooeur ssrs brise suffi, ehr vous l'^ve?
sine et vous le pleure? comme nous.
Victoria, Imperatrice, Keine cle prusse.«
Tatsächlich hatte diese Freundschaft eines auf¬
rechten Mannes zu seinem früheren Zögling
nichts gemein mit jener salbungsvollen, be¬
lehrenden Untertänigkeit, die den üblichen
Hofmeister kennzeichnet. Die Briefe, die uns
der Verfasser aus seines Vaters Nachlaß mit¬
teilt, haben nur deshalb die Gewalt der
Vergegenwärtigung, weil sie solcher Elemente

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[0442] Maßgebliches und Unmaßgebliches Vereinsamung Nietzsches mit Vorliebe als Folge äußerer Umstände dar und entwickelt dabei — man kann es nicht anders nennen — eine fast altjüngferlich anmutende Art des historischen Sinnes. Sie stellt die Trennung und den Abfall der Freunde Nietzsches in den meisten Fällen nicht nur als Resultat eines Ver¬ schuldens und mangelnden Verständnisses eben dieser Freunde hin — das ist für Elisabeth Förster-Nietzsche selbstverständlich —, sondern vielfach sogar als das Resultat böswilliger Intriguen von feiten falscher und minder¬ wertiger Freunde. Sie führt uns mit un¬ erbittlicher Hand hinter die Kulissen der Ge¬ sellschaft, in der Nietzsche lebte, sie verschont uns nicht mit dem Bekannten-, ja dem Alt¬ weiberklatsch: „Frau Soundso hat mir ge¬ sagt", „Frau X soll gesagt haben", „Herr Ge- hoimrcit U hat an jemand geschrieben" — das ist der Stil dieser Geschichtsschreibung. Bezeichnend für diesen Stil ist der Haß gegen Frau Overbeck. Sie erscheint Frau Förster- Nietzsche als der böse Geist, oder sagen wir besser, als die böse Zunge, der Nietzsche zum Opfer gefallen ist. Es soll nicht geleugnet werden, daß auch diese Geschichten schließlich eine gewisse Be¬ deutung haben für das Verständnis von Nietzsches Leben. Gerade das Kleine und Kleinliche spielt ja oft in dem Leben der größten Geister eine verhängnisvolle Rolle. Das geht doch aber nicht an, daß man die Lebensschilderung eines Großen auf diesen Leisten zuschreitet. Elisabeth Förster-Nietzsche bemüht sich, ihren Bruder zu verteidigen und zu verklären, und sie merkt es gar nicht, wie sehr sie ihn durch diese Art der Verteidigung erniedrigt. Die Lösung für das psychologische Pro¬ blem, das uns der „einsame Nietzsche" bietet, der Psychologische Grund für seine Verein¬ samung liegt ganz wo anders, er liegt viel¬ leicht auf einem Gebiete, das Frau Elisabeth Förster-Nietzsche nicht im entferntesten ahnt. Sie würde sich auch, so glaube ich, mit Händen und Füßen sträuben, wenn man sie auf dieses Dr. ZV. ZVarstat Gebiet führen wollte. Fredöric Godet (1812 — 1900). Von Philippe Godet. Neuchatel, Altinger Fröres 1913. Ist es eine Eigentümlichkeit unserer Zeit, die sich in dem schönen Satze Maeterlincks aussprach: „Ich habe es längst aufgegeben, etwas Schöneres zu suchen als die Wahrheit."? Wenn dem so ist, so darf das inhaltreiche Memoirenwerk, das der beredte Romanist der jüngsten Schweizer Universität, Philippe Godet in Neuchatel mit der gestaltend auswählenden Hand des erfahrenen Künstlers und dem kritischen Blick des Historikers aus dem Lebens¬ stoff seines Baders aufgebaut hat, auf eine Leser¬ gemeinde weit über den Umkreis der theologisch oder lokal Interessierten hinaus rechnen. Denn dieses Buch ist wahr, das ist sein erstes Charakteristikon; nicht allein wahr in jenem gleichgültigen Sinne des wirklichen Geschehens, sondern wahr, weil es die Einzelheiten eines innerlich reichen Lebens im Zusammenhang einer Epoche, in der notwendigen, wahren Proportion der Dinge überblickt. Frederic Godet kam als junger Theologe aus dem einstigen Preußischen Fürstentum Neuchatel als Erzieher des Prinzen Friedrich Wilhelm nach Berlin ins königliche Haus. Sein offener, empfänglicher Geist empfing da die Anregungen der führenden Geister moderner deutsch-protestantischer Theologie, namentlich Schleiermachers, Steffens, Neanders u. a. Vom Herbst 1838 bis Herbst 1844 leitete er in Babelsberg und Potsdam die Erziehung und den Unterricht des jungen Prinzen und seines Spiel- und Studienkameraden von Jastrow. Einem innig-freundschaftlichen Verhältnis hat Godet in diesen Jahren den Grund gelegt, das bis an den Tod des Kaisers Friedrichs des Dritten ungestört fortgedauert, als am 16. Juni 1888 Godet von der Kaiserin-Witwe das Telegramm erhielt: »vsns ins clouleur sans bornes, mes pensess vont K vous. Vous eomprenäre? ce que issoukkre; votre ooeur ssrs brise suffi, ehr vous l'^ve? sine et vous le pleure? comme nous. Victoria, Imperatrice, Keine cle prusse.« Tatsächlich hatte diese Freundschaft eines auf¬ rechten Mannes zu seinem früheren Zögling nichts gemein mit jener salbungsvollen, be¬ lehrenden Untertänigkeit, die den üblichen Hofmeister kennzeichnet. Die Briefe, die uns der Verfasser aus seines Vaters Nachlaß mit¬ teilt, haben nur deshalb die Gewalt der Vergegenwärtigung, weil sie solcher Elemente

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_327465/442>, abgerufen am 28.12.2024.