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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

[Beginn Spaltensatz]
Volkswirtschaft

Deutsche Arvcitcrzcntrnle und innere
Kolonisation. Der kürzlich erschieneneJnhres-
bericht 1912/13 der Deutschen Arbeiterzentrale
enthält Anschauungen über die Bedeutung der
bäuerlichen Kolonisation, die wir doch unseren
Lesern nicht vorenthalten wollen. In dürren
Worten stellt der Bericht am Schlüsse seiner
Ausführungen die Forderung auf, die Pro¬
duktion der deutschen Landwirtschaft in solchen
Formen vor sich gehen zu lassen, wie sie dem
ausländischen Wanderarbeiter am genehmsten
seien, Da die Erfahrung lehre, daß die
Arbeitsgelegenheit in bäuerlichen Betrieben
von den Ausländern nicht beliebt sei, viel¬
mehr die Beschäftigung in Großbetrieben
wegen der damit gegebenen Möglichkeit des
Zusammenbleibens in größeren Trupps von
ihnen bei weitem vorgezogen würde, so müsse
jeder, der es für erwünscht halte, daß der
Bedarf an landwirtschaftlichen Erzeugnissen
Deutschlands nach Möglichkeit durch eigene
Produktion gewonnen werde, für die Erhal¬
tung des Großbetriebes Sorge tragen. Die
Auflösung der landwirtschaftlichen Produktion
in lauter bäuerliche Betriebe würde die Be¬
schaffung ausländischer Arbeiter so unendlich
erschweren, daß wir damit in der Hauptsache
von dem ausländischen Arbeitsmarkte aus¬
geschlossen und allein auf den einheimischen
Markt verwiesen würden, auf dem die Land¬
wirtschaft, wie die Dinge liegen, Deckung
ihres Bedarfes an Arbeitskräften nicht finden

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könne. Daß sie es nicht kann, führt der
Bericht darauf zurück, daß die Landwirtschaft
wie die gesamte deutsche Volkswirtschaft in
ihrer Produktion und Arbeitsintensität mit
der Bevölkernngsvermehrung nicht Schritt ge¬
halten hat, sondern der letzteren voraus¬
geeilt ist.

Ohne auf die Gründe der Divergenz von
Produktion und Bevölkerungsvermehrung
näher einzugehen, die jedenfalls nicht ohne
Schuld der im Anfang des vorigen Jahr¬
hunderts führenden Politiker zustandege¬
kommen ist, mag diese von dem Bericht als
letzter Grund unserer Arbeiternot bezeichnete
Unzulänglichkeit der Volksvermehrung als
berechtigter Ausgangspunkt der Betrachtung
anerkannt werden. Industrie und Landwirt¬
schaft zusammen verlangen schon heute eine
Deckung an Arbeitskräften, der das deutsche
Volk aus eigener Kraft nicht mehr gerecht zu
werden vermag. Die Industrie und das
städtische Leben haben dabei die stärkere An¬
ziehungskraft auf den Nachwuchs der Ar¬
beiterschaft, um so mehr aber hat die Land¬
wirtschaft unter dem Mangel der Kräfte zu
leiden. Die Zahl ihrer einheimischen Ar¬
beiter hält nicht nur nicht Schritt mit der
gesteigerten Gütererzeugung der Neuzeit, son¬
dern nimmt sogar von Jahr zu Jahr
absolut ab. Leben doch heute auf dem Platten
Lande im Osten weniger Menschen als vor
vierzig Jahren, trotzdem damals unser Volk
insgesamt noch zwanzig Millionen Köpfe
weniger zählte als heute. Die Abwanderung

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

[Beginn Spaltensatz]
Volkswirtschaft

Deutsche Arvcitcrzcntrnle und innere
Kolonisation. Der kürzlich erschieneneJnhres-
bericht 1912/13 der Deutschen Arbeiterzentrale
enthält Anschauungen über die Bedeutung der
bäuerlichen Kolonisation, die wir doch unseren
Lesern nicht vorenthalten wollen. In dürren
Worten stellt der Bericht am Schlüsse seiner
Ausführungen die Forderung auf, die Pro¬
duktion der deutschen Landwirtschaft in solchen
Formen vor sich gehen zu lassen, wie sie dem
ausländischen Wanderarbeiter am genehmsten
seien, Da die Erfahrung lehre, daß die
Arbeitsgelegenheit in bäuerlichen Betrieben
von den Ausländern nicht beliebt sei, viel¬
mehr die Beschäftigung in Großbetrieben
wegen der damit gegebenen Möglichkeit des
Zusammenbleibens in größeren Trupps von
ihnen bei weitem vorgezogen würde, so müsse
jeder, der es für erwünscht halte, daß der
Bedarf an landwirtschaftlichen Erzeugnissen
Deutschlands nach Möglichkeit durch eigene
Produktion gewonnen werde, für die Erhal¬
tung des Großbetriebes Sorge tragen. Die
Auflösung der landwirtschaftlichen Produktion
in lauter bäuerliche Betriebe würde die Be¬
schaffung ausländischer Arbeiter so unendlich
erschweren, daß wir damit in der Hauptsache
von dem ausländischen Arbeitsmarkte aus¬
geschlossen und allein auf den einheimischen
Markt verwiesen würden, auf dem die Land¬
wirtschaft, wie die Dinge liegen, Deckung
ihres Bedarfes an Arbeitskräften nicht finden

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könne. Daß sie es nicht kann, führt der
Bericht darauf zurück, daß die Landwirtschaft
wie die gesamte deutsche Volkswirtschaft in
ihrer Produktion und Arbeitsintensität mit
der Bevölkernngsvermehrung nicht Schritt ge¬
halten hat, sondern der letzteren voraus¬
geeilt ist.

Ohne auf die Gründe der Divergenz von
Produktion und Bevölkerungsvermehrung
näher einzugehen, die jedenfalls nicht ohne
Schuld der im Anfang des vorigen Jahr¬
hunderts führenden Politiker zustandege¬
kommen ist, mag diese von dem Bericht als
letzter Grund unserer Arbeiternot bezeichnete
Unzulänglichkeit der Volksvermehrung als
berechtigter Ausgangspunkt der Betrachtung
anerkannt werden. Industrie und Landwirt¬
schaft zusammen verlangen schon heute eine
Deckung an Arbeitskräften, der das deutsche
Volk aus eigener Kraft nicht mehr gerecht zu
werden vermag. Die Industrie und das
städtische Leben haben dabei die stärkere An¬
ziehungskraft auf den Nachwuchs der Ar¬
beiterschaft, um so mehr aber hat die Land¬
wirtschaft unter dem Mangel der Kräfte zu
leiden. Die Zahl ihrer einheimischen Ar¬
beiter hält nicht nur nicht Schritt mit der
gesteigerten Gütererzeugung der Neuzeit, son¬
dern nimmt sogar von Jahr zu Jahr
absolut ab. Leben doch heute auf dem Platten
Lande im Osten weniger Menschen als vor
vierzig Jahren, trotzdem damals unser Volk
insgesamt noch zwanzig Millionen Köpfe
weniger zählte als heute. Die Abwanderung

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[0298] [Abbildung] Maßgebliches und Unmaßgebliches Volkswirtschaft Deutsche Arvcitcrzcntrnle und innere Kolonisation. Der kürzlich erschieneneJnhres- bericht 1912/13 der Deutschen Arbeiterzentrale enthält Anschauungen über die Bedeutung der bäuerlichen Kolonisation, die wir doch unseren Lesern nicht vorenthalten wollen. In dürren Worten stellt der Bericht am Schlüsse seiner Ausführungen die Forderung auf, die Pro¬ duktion der deutschen Landwirtschaft in solchen Formen vor sich gehen zu lassen, wie sie dem ausländischen Wanderarbeiter am genehmsten seien, Da die Erfahrung lehre, daß die Arbeitsgelegenheit in bäuerlichen Betrieben von den Ausländern nicht beliebt sei, viel¬ mehr die Beschäftigung in Großbetrieben wegen der damit gegebenen Möglichkeit des Zusammenbleibens in größeren Trupps von ihnen bei weitem vorgezogen würde, so müsse jeder, der es für erwünscht halte, daß der Bedarf an landwirtschaftlichen Erzeugnissen Deutschlands nach Möglichkeit durch eigene Produktion gewonnen werde, für die Erhal¬ tung des Großbetriebes Sorge tragen. Die Auflösung der landwirtschaftlichen Produktion in lauter bäuerliche Betriebe würde die Be¬ schaffung ausländischer Arbeiter so unendlich erschweren, daß wir damit in der Hauptsache von dem ausländischen Arbeitsmarkte aus¬ geschlossen und allein auf den einheimischen Markt verwiesen würden, auf dem die Land¬ wirtschaft, wie die Dinge liegen, Deckung ihres Bedarfes an Arbeitskräften nicht finden könne. Daß sie es nicht kann, führt der Bericht darauf zurück, daß die Landwirtschaft wie die gesamte deutsche Volkswirtschaft in ihrer Produktion und Arbeitsintensität mit der Bevölkernngsvermehrung nicht Schritt ge¬ halten hat, sondern der letzteren voraus¬ geeilt ist. Ohne auf die Gründe der Divergenz von Produktion und Bevölkerungsvermehrung näher einzugehen, die jedenfalls nicht ohne Schuld der im Anfang des vorigen Jahr¬ hunderts führenden Politiker zustandege¬ kommen ist, mag diese von dem Bericht als letzter Grund unserer Arbeiternot bezeichnete Unzulänglichkeit der Volksvermehrung als berechtigter Ausgangspunkt der Betrachtung anerkannt werden. Industrie und Landwirt¬ schaft zusammen verlangen schon heute eine Deckung an Arbeitskräften, der das deutsche Volk aus eigener Kraft nicht mehr gerecht zu werden vermag. Die Industrie und das städtische Leben haben dabei die stärkere An¬ ziehungskraft auf den Nachwuchs der Ar¬ beiterschaft, um so mehr aber hat die Land¬ wirtschaft unter dem Mangel der Kräfte zu leiden. Die Zahl ihrer einheimischen Ar¬ beiter hält nicht nur nicht Schritt mit der gesteigerten Gütererzeugung der Neuzeit, son¬ dern nimmt sogar von Jahr zu Jahr absolut ab. Leben doch heute auf dem Platten Lande im Osten weniger Menschen als vor vierzig Jahren, trotzdem damals unser Volk insgesamt noch zwanzig Millionen Köpfe weniger zählte als heute. Die Abwanderung

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_327465/298>, abgerufen am 28.12.2024.