Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr.Maßgebliches und Uninaßgcblichcs [Beginn Spaltensatz] anregt. Es ist noch wichtiger, daß sie be¬ Ihre Seele sei keine Uhr, die sich nach Einmal rät sie Lavater: "Machen Sie sich Auch hier trifft Goethe mit ihr zusammen in Es ist nicht zu ermessen, wie viel diese Am vorletzten Tage ihres Lebens fragte Der "Merhet" des neunzehnten Jahr¬ hunderts. Wer jemals auf dem Felde der Maßgebliches und Uninaßgcblichcs [Beginn Spaltensatz] anregt. Es ist noch wichtiger, daß sie be¬ Ihre Seele sei keine Uhr, die sich nach Einmal rät sie Lavater: „Machen Sie sich Auch hier trifft Goethe mit ihr zusammen in Es ist nicht zu ermessen, wie viel diese Am vorletzten Tage ihres Lebens fragte Der „Merhet" des neunzehnten Jahr¬ hunderts. Wer jemals auf dem Felde der <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <pb facs="#f0249" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/327715"/> <fw type="header" place="top"> Maßgebliches und Uninaßgcblichcs</fw><lb/> <cb type="start"/> <p xml:id="ID_1142" prev="#ID_1141"> anregt. Es ist noch wichtiger, daß sie be¬<lb/> greifen macht, wie das Weltkind, aus Klein-<lb/> Pnris heimgekehrt, an der Frommen Halt<lb/> finden konnte. Susanna war eine nicht einseitig<lb/> Fromme. Sonst Ware sie auch nicht die<lb/> Freundin der Frau Rat gewesen. Ihr Blick<lb/> schwärmte nicht nur ins Jenseits, sie sah<lb/> das Wirkliche. Liest man den Brief, worin<lb/> sie Labater mit fast komisch reichlichen Rat¬<lb/> schlägen für seine Diät überschüttet, so sieht<lb/> man sie vor sich, wie sie „nach Medici-Art"<lb/> den kranken Studiosen Pflegt und hütet. Sie<lb/> heilt ihn nicht mit geistlichen Sprüchen. So<lb/> fest sie in ihrem Glauben stand, sie durfte<lb/> sich einen christlichen Freigeist nennen; denn<lb/> alles Formenwesen, alles Gemodelte war sür<lb/> sie verschwunden, ihre Brüderschaft waren alle<lb/> Menschen, schreibt sie. Das Paßte für Goethe.<lb/> Und wieder taugte für ihn ihre Klage: „wie<lb/> leicht ist mit dem Schall des Aberglaubens<lb/> auch der so unansehnliche — mächtige Kinder¬<lb/> glaube hinausrüsonniert." Oder ihr Wort:<lb/> „Gott Lob und Dank für meine unstudierte<lb/> Einfalt."</p> <p xml:id="ID_1143"> Ihre Seele sei keine Uhr, die sich nach<lb/> einer anderen stellen lasse, sagte sie: das zog<lb/> Goethe an. Offenen Urteils schrieb sie dem¬<lb/> gemäß einmal an Labater: „Ich kenne, schätze<lb/> und lese mit Nutzen und Vergnügen Ihre<lb/> Schriften — aber ich sage beileibe nicht zu<lb/> allem ja und Amen. In den „Aussichten in<lb/> die Ewigkeit" (Lavaters Schrift) sind viele<lb/> Dinge, die ich nicht brauchen kann — die<lb/> sind nicht für mich geschrieben." Einige der<lb/> Briefe aber seien für sie geschrieben: „was<lb/> Sie darinnen sagen, habe ich oft und viel in<lb/> sanfter Einsamkeit und ungestörter Stille mehr<lb/> gefühlt als gedacht. Ich bin ein Frauenzimmer,<lb/> die Gabe des Denkens und des richtigen<lb/> bestimmten Ausdrucks ist ohne Widerspruch<lb/> dem männlichen Geschlecht eigen — wir aber<lb/> sind desto empfindsamer. Sie nennen mir,<lb/> was ich gefühlt." Auch Goethe wußte zu<lb/> nennen, was sie gefühlt.</p> <p xml:id="ID_1144" next="#ID_1145"> Einmal rät sie Lavater: „Machen Sie sich<lb/> viel, ja unablässig viel mit Christus als<lb/> Mensch zu schaffen —- und zwar sind mir die<lb/> Stunden seiner Menschheit, darinnen er durch<lb/> die Umstände so ganz von anderen Menschen<lb/> ausgezeichnet ist — in der Krippe — am<lb/> Kreuz usw. die seligsten, die fruchtbarsten."</p> <cb/><lb/> <p xml:id="ID_1145" prev="#ID_1144"> Auch hier trifft Goethe mit ihr zusammen in<lb/> der Grundauffassung, wie aus seinem „Ewigen<lb/> Juden" hervorleuchtet. Hier könnte der<lb/> Schluß ihres Satzes stehen: „Ich traue es<lb/> meinem treuen Heiland zu, daß er ferner wie<lb/> bisher über alles mein Denken an uns tun<lb/> wird. . . denn er segnet gar zu gerne."</p> <p xml:id="ID_1146"> Es ist nicht zu ermessen, wie viel diese<lb/> feine in sich gefestigte Seele dem gährenden<lb/> Jüngling war. Sie gab ihm mehr, als<lb/> Brüder und Männer geben konnten. Sie<lb/> weckte, läuterte sein Jnnengefühl. Kaum hätte<lb/> er, ohne ihre Frömmigkeit zu ehren, Gretchen<lb/> so glaubensvoll vor der Uater cloloross<lb/> beten lassen können. Sie zwang ihn nicht<lb/> unter ihre geistlichen Bedürfnisse, sie lehrte ihn<lb/> sie achten und leitete alles weltliche Empfinden<lb/> in das Tiefste, zur schlichten Reinheit, zum<lb/> stillen Selbstbesinnen.</p> <p xml:id="ID_1147"> Am vorletzten Tage ihres Lebens fragte<lb/> sie die Mutter nach ihrem Doktor; die wußte<lb/> vom Sohne zu berichten: „Sie stirbt nicht,<lb/> sagt er immer, das kann nicht sein, sie stirbt<lb/> nicht." Da lachte die Kranke: „Sag ihm<lb/> Adieu, ich hab ihn sehr lieb gehabt."</p> <note type="byline"> V. Seuffert</note> </div> <div n="3"> <head> Der „Merhet" des neunzehnten Jahr¬</head><lb/> </div> <div n="3"> <head> hunderts.</head> <p xml:id="ID_1148" next="#ID_1149"> Wer jemals auf dem Felde der<lb/> deutschen Literaturgeschichte des achtzehnten<lb/> Jahrhunderts biographisch oder bibliographisch<lb/> tätig gewesen ist, nennt mit freudiger<lb/> Dankbarkeit den Namen eines Mannes, durch<lb/> dessen entsagungsvollen Bienenfleiß und<lb/> nimmermüden Sammeleifer ihm vielfache<lb/> wirkungsvolle Unterstützung zu Teil wurde:<lb/> Johann Georg Meusel, „Hochfllrstlich Branden¬<lb/> burgischer und Qucdlinburgischer Hofrat,<lb/> ordentlicher Professor der Geschichtskunde auf<lb/> der Universität zu Erlangen, und Mitglied<lb/> einiger Akademien". Zwei enzyklopädische<lb/> Werke, die man selten ohne Befriedigung<lb/> nachschlagen wird, haben seinen Namen un¬<lb/> sterblich gemacht: „Das gelehrte Teutschland<lb/> oderLexikon der jetztlebenden Teutschen Schrift¬<lb/> steller", dessen fünfte Auflage, nach Meusels<lb/> Tode von Johann Samuel Koch und Johann<lb/> Wilhelm Sigismund Lindner fortgeführt, in<lb/> dreiundzwanzig Bänden von 1796 bis 1834<lb/> erschien. Das Ganze stellte eine Art „Kürschner-<lb/> Jahrbuch" (um einen modernen Vergleich zu</p> <cb type="end"/><lb/> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0249]
Maßgebliches und Uninaßgcblichcs
anregt. Es ist noch wichtiger, daß sie be¬
greifen macht, wie das Weltkind, aus Klein-
Pnris heimgekehrt, an der Frommen Halt
finden konnte. Susanna war eine nicht einseitig
Fromme. Sonst Ware sie auch nicht die
Freundin der Frau Rat gewesen. Ihr Blick
schwärmte nicht nur ins Jenseits, sie sah
das Wirkliche. Liest man den Brief, worin
sie Labater mit fast komisch reichlichen Rat¬
schlägen für seine Diät überschüttet, so sieht
man sie vor sich, wie sie „nach Medici-Art"
den kranken Studiosen Pflegt und hütet. Sie
heilt ihn nicht mit geistlichen Sprüchen. So
fest sie in ihrem Glauben stand, sie durfte
sich einen christlichen Freigeist nennen; denn
alles Formenwesen, alles Gemodelte war sür
sie verschwunden, ihre Brüderschaft waren alle
Menschen, schreibt sie. Das Paßte für Goethe.
Und wieder taugte für ihn ihre Klage: „wie
leicht ist mit dem Schall des Aberglaubens
auch der so unansehnliche — mächtige Kinder¬
glaube hinausrüsonniert." Oder ihr Wort:
„Gott Lob und Dank für meine unstudierte
Einfalt."
Ihre Seele sei keine Uhr, die sich nach
einer anderen stellen lasse, sagte sie: das zog
Goethe an. Offenen Urteils schrieb sie dem¬
gemäß einmal an Labater: „Ich kenne, schätze
und lese mit Nutzen und Vergnügen Ihre
Schriften — aber ich sage beileibe nicht zu
allem ja und Amen. In den „Aussichten in
die Ewigkeit" (Lavaters Schrift) sind viele
Dinge, die ich nicht brauchen kann — die
sind nicht für mich geschrieben." Einige der
Briefe aber seien für sie geschrieben: „was
Sie darinnen sagen, habe ich oft und viel in
sanfter Einsamkeit und ungestörter Stille mehr
gefühlt als gedacht. Ich bin ein Frauenzimmer,
die Gabe des Denkens und des richtigen
bestimmten Ausdrucks ist ohne Widerspruch
dem männlichen Geschlecht eigen — wir aber
sind desto empfindsamer. Sie nennen mir,
was ich gefühlt." Auch Goethe wußte zu
nennen, was sie gefühlt.
Einmal rät sie Lavater: „Machen Sie sich
viel, ja unablässig viel mit Christus als
Mensch zu schaffen —- und zwar sind mir die
Stunden seiner Menschheit, darinnen er durch
die Umstände so ganz von anderen Menschen
ausgezeichnet ist — in der Krippe — am
Kreuz usw. die seligsten, die fruchtbarsten."
Auch hier trifft Goethe mit ihr zusammen in
der Grundauffassung, wie aus seinem „Ewigen
Juden" hervorleuchtet. Hier könnte der
Schluß ihres Satzes stehen: „Ich traue es
meinem treuen Heiland zu, daß er ferner wie
bisher über alles mein Denken an uns tun
wird. . . denn er segnet gar zu gerne."
Es ist nicht zu ermessen, wie viel diese
feine in sich gefestigte Seele dem gährenden
Jüngling war. Sie gab ihm mehr, als
Brüder und Männer geben konnten. Sie
weckte, läuterte sein Jnnengefühl. Kaum hätte
er, ohne ihre Frömmigkeit zu ehren, Gretchen
so glaubensvoll vor der Uater cloloross
beten lassen können. Sie zwang ihn nicht
unter ihre geistlichen Bedürfnisse, sie lehrte ihn
sie achten und leitete alles weltliche Empfinden
in das Tiefste, zur schlichten Reinheit, zum
stillen Selbstbesinnen.
Am vorletzten Tage ihres Lebens fragte
sie die Mutter nach ihrem Doktor; die wußte
vom Sohne zu berichten: „Sie stirbt nicht,
sagt er immer, das kann nicht sein, sie stirbt
nicht." Da lachte die Kranke: „Sag ihm
Adieu, ich hab ihn sehr lieb gehabt."
V. Seuffert Der „Merhet" des neunzehnten Jahr¬
hunderts. Wer jemals auf dem Felde der
deutschen Literaturgeschichte des achtzehnten
Jahrhunderts biographisch oder bibliographisch
tätig gewesen ist, nennt mit freudiger
Dankbarkeit den Namen eines Mannes, durch
dessen entsagungsvollen Bienenfleiß und
nimmermüden Sammeleifer ihm vielfache
wirkungsvolle Unterstützung zu Teil wurde:
Johann Georg Meusel, „Hochfllrstlich Branden¬
burgischer und Qucdlinburgischer Hofrat,
ordentlicher Professor der Geschichtskunde auf
der Universität zu Erlangen, und Mitglied
einiger Akademien". Zwei enzyklopädische
Werke, die man selten ohne Befriedigung
nachschlagen wird, haben seinen Namen un¬
sterblich gemacht: „Das gelehrte Teutschland
oderLexikon der jetztlebenden Teutschen Schrift¬
steller", dessen fünfte Auflage, nach Meusels
Tode von Johann Samuel Koch und Johann
Wilhelm Sigismund Lindner fortgeführt, in
dreiundzwanzig Bänden von 1796 bis 1834
erschien. Das Ganze stellte eine Art „Kürschner-
Jahrbuch" (um einen modernen Vergleich zu
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