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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr.

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Für Indien den preis!
v Heinrich Lilicnfein i on n

le schwedische Akademie in Stockholm hat bekanntlich den letzten
Nobelpreis sür Literatur, allen Mutmaßungen zum Trotz, dem
indischen Dichter Rabindranath Tagore verliehen. Diese Ent¬
scheidung erzeugte besonders in Deutschland und Österreich, wo
man bereits einen deutschen Dichter als Preisträger ausgerufen
hatte, lebhafte Enttäuschung und sogar Entrüstung. Es mag dahingestellt bleiben,
ob es geschmackvoll war, solchen Gefühlen lauten, fast lärmenden Ausdruck zu
geben. Bedenklicher scheint mir, daß der unerwartet erkorene indische Preis¬
träger, dessen Werke bis dahin bei uns unbekannt waren, von vornherein mit
der Geste überlegener Geringschätzung oder doch herablassender Nachsicht begrüßt
wurde. Seit Jahrzehnten sind Gelehrte von Ruf damit beschäftigt, uns die
Schätze indischer Kultur durch Übersetzungen und geschichtliche Darstellungen
immer näher zu bringen. Sie bauen vor uns eine Welt auf, so gedankengroß
und schönheitsvoll, an wesentlichen, durch die arische Stammverwandtschaft er¬
klärten Beziehungen zu unserer Geisteswelt so reich und bedeutsam, daß jeder
halbwegs Kundige in staunender Ehrfurcht zu jenen Denkmälern östlicher Ver¬
gangenheit emporsieht. Indien ist, wie kaum ein anderes Land, das Land
geheiligter Tradition. Selbst wenn wir alle durch die Geschichte geschaffenen
Unterschiede des Indien von heute und von einst in Rechnung stellen, -- was
berechtigt zu der votwitzigen Annahme, daß das indische Volk der Gegenwart
nicht hätte einen preiswürdigen Dichter hervorbringen können? Schon die
Wahrscheinlichkeit sprach dafür, daß in Tagore, als einem Inder von Bildung
und bevorzugter Klasse, jene gewaltige Tradition lebendig sei. Das mahnte
zum niindesten zu achtungsvoller Vorsicht. Sollte es sich überdies herausstellen,
daß es sich in dem Preisgekrönten um einen echten, einen namhaften Dichter
handelt, würde nicht alles dreiste und törichte Absprechen doppelt gerichtet sein?
Um dem einen wie dem anderen auf die Spur zu kommen, ist einige Einsicht
in die Vergangenheit des indischen Geisteslebens die Voraussetzung.

Im Kopf des Naturmenschen, der an der Pforte zu aller Kultur steht,
pflegen sich die Vorstellungen über das Leben und seinen Sinn, über Natur
und Gottheit wunderlich zu mengen. Dieses naive, urtümliche Gemenge von




Für Indien den preis!
v Heinrich Lilicnfein i on n

le schwedische Akademie in Stockholm hat bekanntlich den letzten
Nobelpreis sür Literatur, allen Mutmaßungen zum Trotz, dem
indischen Dichter Rabindranath Tagore verliehen. Diese Ent¬
scheidung erzeugte besonders in Deutschland und Österreich, wo
man bereits einen deutschen Dichter als Preisträger ausgerufen
hatte, lebhafte Enttäuschung und sogar Entrüstung. Es mag dahingestellt bleiben,
ob es geschmackvoll war, solchen Gefühlen lauten, fast lärmenden Ausdruck zu
geben. Bedenklicher scheint mir, daß der unerwartet erkorene indische Preis¬
träger, dessen Werke bis dahin bei uns unbekannt waren, von vornherein mit
der Geste überlegener Geringschätzung oder doch herablassender Nachsicht begrüßt
wurde. Seit Jahrzehnten sind Gelehrte von Ruf damit beschäftigt, uns die
Schätze indischer Kultur durch Übersetzungen und geschichtliche Darstellungen
immer näher zu bringen. Sie bauen vor uns eine Welt auf, so gedankengroß
und schönheitsvoll, an wesentlichen, durch die arische Stammverwandtschaft er¬
klärten Beziehungen zu unserer Geisteswelt so reich und bedeutsam, daß jeder
halbwegs Kundige in staunender Ehrfurcht zu jenen Denkmälern östlicher Ver¬
gangenheit emporsieht. Indien ist, wie kaum ein anderes Land, das Land
geheiligter Tradition. Selbst wenn wir alle durch die Geschichte geschaffenen
Unterschiede des Indien von heute und von einst in Rechnung stellen, — was
berechtigt zu der votwitzigen Annahme, daß das indische Volk der Gegenwart
nicht hätte einen preiswürdigen Dichter hervorbringen können? Schon die
Wahrscheinlichkeit sprach dafür, daß in Tagore, als einem Inder von Bildung
und bevorzugter Klasse, jene gewaltige Tradition lebendig sei. Das mahnte
zum niindesten zu achtungsvoller Vorsicht. Sollte es sich überdies herausstellen,
daß es sich in dem Preisgekrönten um einen echten, einen namhaften Dichter
handelt, würde nicht alles dreiste und törichte Absprechen doppelt gerichtet sein?
Um dem einen wie dem anderen auf die Spur zu kommen, ist einige Einsicht
in die Vergangenheit des indischen Geisteslebens die Voraussetzung.

Im Kopf des Naturmenschen, der an der Pforte zu aller Kultur steht,
pflegen sich die Vorstellungen über das Leben und seinen Sinn, über Natur
und Gottheit wunderlich zu mengen. Dieses naive, urtümliche Gemenge von


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[0022] [Abbildung] Für Indien den preis! v Heinrich Lilicnfein i on n le schwedische Akademie in Stockholm hat bekanntlich den letzten Nobelpreis sür Literatur, allen Mutmaßungen zum Trotz, dem indischen Dichter Rabindranath Tagore verliehen. Diese Ent¬ scheidung erzeugte besonders in Deutschland und Österreich, wo man bereits einen deutschen Dichter als Preisträger ausgerufen hatte, lebhafte Enttäuschung und sogar Entrüstung. Es mag dahingestellt bleiben, ob es geschmackvoll war, solchen Gefühlen lauten, fast lärmenden Ausdruck zu geben. Bedenklicher scheint mir, daß der unerwartet erkorene indische Preis¬ träger, dessen Werke bis dahin bei uns unbekannt waren, von vornherein mit der Geste überlegener Geringschätzung oder doch herablassender Nachsicht begrüßt wurde. Seit Jahrzehnten sind Gelehrte von Ruf damit beschäftigt, uns die Schätze indischer Kultur durch Übersetzungen und geschichtliche Darstellungen immer näher zu bringen. Sie bauen vor uns eine Welt auf, so gedankengroß und schönheitsvoll, an wesentlichen, durch die arische Stammverwandtschaft er¬ klärten Beziehungen zu unserer Geisteswelt so reich und bedeutsam, daß jeder halbwegs Kundige in staunender Ehrfurcht zu jenen Denkmälern östlicher Ver¬ gangenheit emporsieht. Indien ist, wie kaum ein anderes Land, das Land geheiligter Tradition. Selbst wenn wir alle durch die Geschichte geschaffenen Unterschiede des Indien von heute und von einst in Rechnung stellen, — was berechtigt zu der votwitzigen Annahme, daß das indische Volk der Gegenwart nicht hätte einen preiswürdigen Dichter hervorbringen können? Schon die Wahrscheinlichkeit sprach dafür, daß in Tagore, als einem Inder von Bildung und bevorzugter Klasse, jene gewaltige Tradition lebendig sei. Das mahnte zum niindesten zu achtungsvoller Vorsicht. Sollte es sich überdies herausstellen, daß es sich in dem Preisgekrönten um einen echten, einen namhaften Dichter handelt, würde nicht alles dreiste und törichte Absprechen doppelt gerichtet sein? Um dem einen wie dem anderen auf die Spur zu kommen, ist einige Einsicht in die Vergangenheit des indischen Geisteslebens die Voraussetzung. Im Kopf des Naturmenschen, der an der Pforte zu aller Kultur steht, pflegen sich die Vorstellungen über das Leben und seinen Sinn, über Natur und Gottheit wunderlich zu mengen. Dieses naive, urtümliche Gemenge von

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_327465/22>, abgerufen am 28.12.2024.