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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr.

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Russische Eindrücke eines Urvater
Dr. Oragutin prohaska vonI.
Sankt Petersburg

le läßt sich nicht einfangen, diese Stadt der bleichen Nächte, der
christlichen Antichrists, der westlicher Zivilisation anhängenden
Buddhisten, der Fortschrittler - Ab so lutisten, der DenkerMystiker.
Man muß Logik, Chronologie, Dimensionen und alle Elemente
vergessen, aus denen wir bestehen, soll diese Welt harmonischer
Gegensätze in einen Begriff gefaßt werden, will man zumindest das Typische
ihrer Gestalt bestimmen.

Schon in ihrer Basis, im Plan ist der Grund zu finden, warum sie keinen
Begriff von sich zu bilden erlaubt. Der Begriff unterscheidet sich von den An¬
schauungen wie der Turm von der Kirche, der Blitzableiter vom Heim, wie die
Höhe von der Breite, der Gedanke vom Gefühl, wie die Abstraktion von den
Realitäten, aus denen sie abgeleitet wird. Petersburg ist auf Schlamm angelegt
und auf verstreuten Inseln, der vielfach zerschnittenen deltaartigen Mündung
zahlloser Newaarme. Auf weichem, weit ausgedehntem Grund, der keinerlei
Architektur in die Höhe duldet, nur eine, die in die Breite geht. Als diese
weiche Erde noch ganz feucht war, bestand Petersburg aus lauter Archen Noahs,
aus den typisch russischen hölzernen "Datschi". Der eherne Schritt der Zivili¬
sation trat den Boden aus, härtete ihn und die Holzhütten verschwanden nach
und nach, um immer noch leichten Gebäuden im Rokokostil zu weichen mit
Filigranbalkonen, mit Einrichtungsstücken, die auf schlanken, feinen, vergoldeten
Beinen standen und mit Bewohnern, die unter ihren Perücken "diskret aufzu¬
treten" verstanden. Aber schon zur Zeit Katharinas, die mit Diderot korre¬
spondierte, meldet sich ein schwererer Ton und die Lebensführung wird materia¬
listischer. Etwas wie Gelehrsamkeit, die Periode, die Ode, Geschichte und
Wörterbücher, Dershawin, Lomonosow . . . folgen. Und in Puschkin fließt das
alles zusammen in eine lebendige Poesie. In ihm triumphiert die Konsolidierung
des petersburgischen Bodens zum ersten Male in unabhängiger und genialer
Weise. Er jubelt vor dem "Ehernen Reiter" über die hundertjährige Kultur¬
arbeit. Da ist er, der Ritter aus Bronze, der das Roß emporreißt, hoch auf




Russische Eindrücke eines Urvater
Dr. Oragutin prohaska vonI.
Sankt Petersburg

le läßt sich nicht einfangen, diese Stadt der bleichen Nächte, der
christlichen Antichrists, der westlicher Zivilisation anhängenden
Buddhisten, der Fortschrittler - Ab so lutisten, der DenkerMystiker.
Man muß Logik, Chronologie, Dimensionen und alle Elemente
vergessen, aus denen wir bestehen, soll diese Welt harmonischer
Gegensätze in einen Begriff gefaßt werden, will man zumindest das Typische
ihrer Gestalt bestimmen.

Schon in ihrer Basis, im Plan ist der Grund zu finden, warum sie keinen
Begriff von sich zu bilden erlaubt. Der Begriff unterscheidet sich von den An¬
schauungen wie der Turm von der Kirche, der Blitzableiter vom Heim, wie die
Höhe von der Breite, der Gedanke vom Gefühl, wie die Abstraktion von den
Realitäten, aus denen sie abgeleitet wird. Petersburg ist auf Schlamm angelegt
und auf verstreuten Inseln, der vielfach zerschnittenen deltaartigen Mündung
zahlloser Newaarme. Auf weichem, weit ausgedehntem Grund, der keinerlei
Architektur in die Höhe duldet, nur eine, die in die Breite geht. Als diese
weiche Erde noch ganz feucht war, bestand Petersburg aus lauter Archen Noahs,
aus den typisch russischen hölzernen „Datschi". Der eherne Schritt der Zivili¬
sation trat den Boden aus, härtete ihn und die Holzhütten verschwanden nach
und nach, um immer noch leichten Gebäuden im Rokokostil zu weichen mit
Filigranbalkonen, mit Einrichtungsstücken, die auf schlanken, feinen, vergoldeten
Beinen standen und mit Bewohnern, die unter ihren Perücken „diskret aufzu¬
treten" verstanden. Aber schon zur Zeit Katharinas, die mit Diderot korre¬
spondierte, meldet sich ein schwererer Ton und die Lebensführung wird materia¬
listischer. Etwas wie Gelehrsamkeit, die Periode, die Ode, Geschichte und
Wörterbücher, Dershawin, Lomonosow . . . folgen. Und in Puschkin fließt das
alles zusammen in eine lebendige Poesie. In ihm triumphiert die Konsolidierung
des petersburgischen Bodens zum ersten Male in unabhängiger und genialer
Weise. Er jubelt vor dem „Ehernen Reiter" über die hundertjährige Kultur¬
arbeit. Da ist er, der Ritter aus Bronze, der das Roß emporreißt, hoch auf


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[0169] [Abbildung] Russische Eindrücke eines Urvater Dr. Oragutin prohaska vonI. Sankt Petersburg le läßt sich nicht einfangen, diese Stadt der bleichen Nächte, der christlichen Antichrists, der westlicher Zivilisation anhängenden Buddhisten, der Fortschrittler - Ab so lutisten, der DenkerMystiker. Man muß Logik, Chronologie, Dimensionen und alle Elemente vergessen, aus denen wir bestehen, soll diese Welt harmonischer Gegensätze in einen Begriff gefaßt werden, will man zumindest das Typische ihrer Gestalt bestimmen. Schon in ihrer Basis, im Plan ist der Grund zu finden, warum sie keinen Begriff von sich zu bilden erlaubt. Der Begriff unterscheidet sich von den An¬ schauungen wie der Turm von der Kirche, der Blitzableiter vom Heim, wie die Höhe von der Breite, der Gedanke vom Gefühl, wie die Abstraktion von den Realitäten, aus denen sie abgeleitet wird. Petersburg ist auf Schlamm angelegt und auf verstreuten Inseln, der vielfach zerschnittenen deltaartigen Mündung zahlloser Newaarme. Auf weichem, weit ausgedehntem Grund, der keinerlei Architektur in die Höhe duldet, nur eine, die in die Breite geht. Als diese weiche Erde noch ganz feucht war, bestand Petersburg aus lauter Archen Noahs, aus den typisch russischen hölzernen „Datschi". Der eherne Schritt der Zivili¬ sation trat den Boden aus, härtete ihn und die Holzhütten verschwanden nach und nach, um immer noch leichten Gebäuden im Rokokostil zu weichen mit Filigranbalkonen, mit Einrichtungsstücken, die auf schlanken, feinen, vergoldeten Beinen standen und mit Bewohnern, die unter ihren Perücken „diskret aufzu¬ treten" verstanden. Aber schon zur Zeit Katharinas, die mit Diderot korre¬ spondierte, meldet sich ein schwererer Ton und die Lebensführung wird materia¬ listischer. Etwas wie Gelehrsamkeit, die Periode, die Ode, Geschichte und Wörterbücher, Dershawin, Lomonosow . . . folgen. Und in Puschkin fließt das alles zusammen in eine lebendige Poesie. In ihm triumphiert die Konsolidierung des petersburgischen Bodens zum ersten Male in unabhängiger und genialer Weise. Er jubelt vor dem „Ehernen Reiter" über die hundertjährige Kultur¬ arbeit. Da ist er, der Ritter aus Bronze, der das Roß emporreißt, hoch auf

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_327465/169>, abgerufen am 28.12.2024.