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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr.

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Neuere Goethe-Literatur
Privatdozent Dr. Richard lNeßlöny von in

o dramatisch kampferfüllt wie heute ist es wohl im Bücherreiche
seit langem nicht zugegangen. Ist nicht das stillste und einsamste Buch
von allen Seiten bedrängt, befürwortet, bestritten? Kaum daß
man ihm das früher selbstverständliche Sondersein eines geistigen,
freien Wesens zugesteht. Selbst das Buch "sozialisiert" sich, es
schließt sich wie die Menschen in Klassen, Gewerkschaften, Stände, Herden --
oder wie sonst der Klüngel heißen mag -- zusammen. Selbst das Buch muß
sich, wie leider wir selber, erst einen Platz suchen in einer Gesamtheit, oder
doch Gemeinschaft, sich einbürgern um dann, will's Gott, wieder herausragen.
Starke Selbstgestaltungen werden sich nur äußerlich, grobstofflich dem Schema
geistiger Produktion fügen, sonst werden sie so wenig klassifizierbar sein wie alles
Echtpersönliche es von jeher war. In diesem grobstofflichen Sinne nur hat
man ein Recht, GeorgSimmels Goethe*) in den Sammelbegriff: Goethe-Literatur
einzubeziehen. Eine strenge Überstofflichkeit vereinzelt dies tiefe, inhaltschwere
Werk von vornherein. Methode und Problemstellung Simmels ist grund¬
verschieden von dem, was wir Goethe-Literatur zu nennen gewohnt sind. Eigent¬
lich ist hier weder von einem Werk, noch von den Werken Goethes oder von
seiner Person die Rede, sondern im vierfach vergeistigter Sinne von der Statik
seiner geistigen Beschaffenheit, vom letzten Sinn des Phänomens Goethe, fast
als diente die historische Person Goethe nur zur Verherrlichung der umfassendsten
menschlichen Innerlichkeit von der wir wissen. Sowohl das Biographische wie
das Poetische im weitesten Sinne erscheint in einem Grade eingegeistet, daß sich
die Darstellung mindestens auf der Grenze hält zwischen Ziel dieser Darstellung
selbst und Bersinnlichungsmittel der Idee: Goethe. So ist hier nicht allein von
einem philosophischen Buch, sondern von einen Philosophenbuch die Rede, d. h.
von der Äußerung einer an sich abstrakt eingestellten Natur dem Geistesphänomen



') Goethe von Georg Simmel, Leipzig 1913. Verlag von Klinkhardt u. Biermann.
264 Seiten. 3 Mark.


Neuere Goethe-Literatur
Privatdozent Dr. Richard lNeßlöny von in

o dramatisch kampferfüllt wie heute ist es wohl im Bücherreiche
seit langem nicht zugegangen. Ist nicht das stillste und einsamste Buch
von allen Seiten bedrängt, befürwortet, bestritten? Kaum daß
man ihm das früher selbstverständliche Sondersein eines geistigen,
freien Wesens zugesteht. Selbst das Buch „sozialisiert" sich, es
schließt sich wie die Menschen in Klassen, Gewerkschaften, Stände, Herden —
oder wie sonst der Klüngel heißen mag — zusammen. Selbst das Buch muß
sich, wie leider wir selber, erst einen Platz suchen in einer Gesamtheit, oder
doch Gemeinschaft, sich einbürgern um dann, will's Gott, wieder herausragen.
Starke Selbstgestaltungen werden sich nur äußerlich, grobstofflich dem Schema
geistiger Produktion fügen, sonst werden sie so wenig klassifizierbar sein wie alles
Echtpersönliche es von jeher war. In diesem grobstofflichen Sinne nur hat
man ein Recht, GeorgSimmels Goethe*) in den Sammelbegriff: Goethe-Literatur
einzubeziehen. Eine strenge Überstofflichkeit vereinzelt dies tiefe, inhaltschwere
Werk von vornherein. Methode und Problemstellung Simmels ist grund¬
verschieden von dem, was wir Goethe-Literatur zu nennen gewohnt sind. Eigent¬
lich ist hier weder von einem Werk, noch von den Werken Goethes oder von
seiner Person die Rede, sondern im vierfach vergeistigter Sinne von der Statik
seiner geistigen Beschaffenheit, vom letzten Sinn des Phänomens Goethe, fast
als diente die historische Person Goethe nur zur Verherrlichung der umfassendsten
menschlichen Innerlichkeit von der wir wissen. Sowohl das Biographische wie
das Poetische im weitesten Sinne erscheint in einem Grade eingegeistet, daß sich
die Darstellung mindestens auf der Grenze hält zwischen Ziel dieser Darstellung
selbst und Bersinnlichungsmittel der Idee: Goethe. So ist hier nicht allein von
einem philosophischen Buch, sondern von einen Philosophenbuch die Rede, d. h.
von der Äußerung einer an sich abstrakt eingestellten Natur dem Geistesphänomen



') Goethe von Georg Simmel, Leipzig 1913. Verlag von Klinkhardt u. Biermann.
264 Seiten. 3 Mark.
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[0615] [Abbildung] Neuere Goethe-Literatur Privatdozent Dr. Richard lNeßlöny von in o dramatisch kampferfüllt wie heute ist es wohl im Bücherreiche seit langem nicht zugegangen. Ist nicht das stillste und einsamste Buch von allen Seiten bedrängt, befürwortet, bestritten? Kaum daß man ihm das früher selbstverständliche Sondersein eines geistigen, freien Wesens zugesteht. Selbst das Buch „sozialisiert" sich, es schließt sich wie die Menschen in Klassen, Gewerkschaften, Stände, Herden — oder wie sonst der Klüngel heißen mag — zusammen. Selbst das Buch muß sich, wie leider wir selber, erst einen Platz suchen in einer Gesamtheit, oder doch Gemeinschaft, sich einbürgern um dann, will's Gott, wieder herausragen. Starke Selbstgestaltungen werden sich nur äußerlich, grobstofflich dem Schema geistiger Produktion fügen, sonst werden sie so wenig klassifizierbar sein wie alles Echtpersönliche es von jeher war. In diesem grobstofflichen Sinne nur hat man ein Recht, GeorgSimmels Goethe*) in den Sammelbegriff: Goethe-Literatur einzubeziehen. Eine strenge Überstofflichkeit vereinzelt dies tiefe, inhaltschwere Werk von vornherein. Methode und Problemstellung Simmels ist grund¬ verschieden von dem, was wir Goethe-Literatur zu nennen gewohnt sind. Eigent¬ lich ist hier weder von einem Werk, noch von den Werken Goethes oder von seiner Person die Rede, sondern im vierfach vergeistigter Sinne von der Statik seiner geistigen Beschaffenheit, vom letzten Sinn des Phänomens Goethe, fast als diente die historische Person Goethe nur zur Verherrlichung der umfassendsten menschlichen Innerlichkeit von der wir wissen. Sowohl das Biographische wie das Poetische im weitesten Sinne erscheint in einem Grade eingegeistet, daß sich die Darstellung mindestens auf der Grenze hält zwischen Ziel dieser Darstellung selbst und Bersinnlichungsmittel der Idee: Goethe. So ist hier nicht allein von einem philosophischen Buch, sondern von einen Philosophenbuch die Rede, d. h. von der Äußerung einer an sich abstrakt eingestellten Natur dem Geistesphänomen ') Goethe von Georg Simmel, Leipzig 1913. Verlag von Klinkhardt u. Biermann. 264 Seiten. 3 Mark.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326169/615>, abgerufen am 19.10.2024.