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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr.

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Sturm

Sprache nicht "die Bedeutung" (Seite 89), sondern nur eine geschichtliche Folge
von Bedeutungen vor sich zu haben. Wir können ihm nicht die Herzens-
härtigkeit zugestehen, daß er uns die Stecken zerbrochen vor die Füße geworfen
habe, mit denen wir sehend-Blinden uns durch diese Welt tasten. Aber wir
lernen sie kennen als das, was sie sind, nur sein können: orientierende Mittel
im ewigen Dunkel, die wir nur deshalb als kongruent bezeichnen, weil sie die
einzigen sind. Man kann über den Nutzen dieser Erkenntnis streiten. "Sicher
im Dämmerschein wandelt die Kindheit dahin." Aber wem einmal die Ab¬
gründe der Welt aufgegangen sind, die er mit dem winzigen Maß seiner Glieder
durchmessen soll -- und die Sprache ist nichts als ein ins Psychische proji¬
ziertes Organ --, der wird gut tun, zu Beginn seiner Reise das mögliche
Bereich dieser Beweglichkeit und die Stärke des Steckens zu bedenken. Daß
nicht die Resignation der unerschöpften Tiefe ihn am Ende seiner Bahn über¬
rascht, angstvoll, tödlich, gehe er mutig aus mit dieser Erwartung auf nichts.
Jeder Schritt am Wege ist dann Gewinn. Der Weg ist schließlich doch der
Sinn des Zieles.




Sturm
Roman Max Ludwig von^Sechste Fortsetzung)

Auf Borküll waren die Sympathien für Kirsch im Steigen. An allen
Ecken und Enden fehlte seine Gegenwart. Baronin Clementine hatte geradezu
Sehnsucht nach den Grobheiten des Verwalters, die sie früher wiederholt für
ihre Zustände verantwortlich gemacht hatte.

Es war eine Art Schreckensregiment, das er führte, aber doch ein Regiment.
Die Damen befanden sich zwar in ständigen Protest dagegen, aber sie hatten
doch nicht dieses gräßliche Gefühl der Unsicherheit, das sie jetzt beherrschte.

Täglich hatte sich Baronin Clementine telephonisch mit dem Revaler
Krankenhaus verbinden lassen und war über die fortschreitende Genesung ihres
Verwalters auf dem laufenden. Als sie erfuhr, daß er das Spital verlassen
hatte, erwartete sie seine Ankunft jeden Augenblick.

Der Brief des Küsters Frey an die Gräfin Schildberg wirkte nieder-
schmetternd: Kirsch war spurlos verschwunden.


3*
Sturm

Sprache nicht „die Bedeutung" (Seite 89), sondern nur eine geschichtliche Folge
von Bedeutungen vor sich zu haben. Wir können ihm nicht die Herzens-
härtigkeit zugestehen, daß er uns die Stecken zerbrochen vor die Füße geworfen
habe, mit denen wir sehend-Blinden uns durch diese Welt tasten. Aber wir
lernen sie kennen als das, was sie sind, nur sein können: orientierende Mittel
im ewigen Dunkel, die wir nur deshalb als kongruent bezeichnen, weil sie die
einzigen sind. Man kann über den Nutzen dieser Erkenntnis streiten. „Sicher
im Dämmerschein wandelt die Kindheit dahin." Aber wem einmal die Ab¬
gründe der Welt aufgegangen sind, die er mit dem winzigen Maß seiner Glieder
durchmessen soll — und die Sprache ist nichts als ein ins Psychische proji¬
ziertes Organ —, der wird gut tun, zu Beginn seiner Reise das mögliche
Bereich dieser Beweglichkeit und die Stärke des Steckens zu bedenken. Daß
nicht die Resignation der unerschöpften Tiefe ihn am Ende seiner Bahn über¬
rascht, angstvoll, tödlich, gehe er mutig aus mit dieser Erwartung auf nichts.
Jeder Schritt am Wege ist dann Gewinn. Der Weg ist schließlich doch der
Sinn des Zieles.




Sturm
Roman Max Ludwig von^Sechste Fortsetzung)

Auf Borküll waren die Sympathien für Kirsch im Steigen. An allen
Ecken und Enden fehlte seine Gegenwart. Baronin Clementine hatte geradezu
Sehnsucht nach den Grobheiten des Verwalters, die sie früher wiederholt für
ihre Zustände verantwortlich gemacht hatte.

Es war eine Art Schreckensregiment, das er führte, aber doch ein Regiment.
Die Damen befanden sich zwar in ständigen Protest dagegen, aber sie hatten
doch nicht dieses gräßliche Gefühl der Unsicherheit, das sie jetzt beherrschte.

Täglich hatte sich Baronin Clementine telephonisch mit dem Revaler
Krankenhaus verbinden lassen und war über die fortschreitende Genesung ihres
Verwalters auf dem laufenden. Als sie erfuhr, daß er das Spital verlassen
hatte, erwartete sie seine Ankunft jeden Augenblick.

Der Brief des Küsters Frey an die Gräfin Schildberg wirkte nieder-
schmetternd: Kirsch war spurlos verschwunden.


3*
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[0047] Sturm Sprache nicht „die Bedeutung" (Seite 89), sondern nur eine geschichtliche Folge von Bedeutungen vor sich zu haben. Wir können ihm nicht die Herzens- härtigkeit zugestehen, daß er uns die Stecken zerbrochen vor die Füße geworfen habe, mit denen wir sehend-Blinden uns durch diese Welt tasten. Aber wir lernen sie kennen als das, was sie sind, nur sein können: orientierende Mittel im ewigen Dunkel, die wir nur deshalb als kongruent bezeichnen, weil sie die einzigen sind. Man kann über den Nutzen dieser Erkenntnis streiten. „Sicher im Dämmerschein wandelt die Kindheit dahin." Aber wem einmal die Ab¬ gründe der Welt aufgegangen sind, die er mit dem winzigen Maß seiner Glieder durchmessen soll — und die Sprache ist nichts als ein ins Psychische proji¬ ziertes Organ —, der wird gut tun, zu Beginn seiner Reise das mögliche Bereich dieser Beweglichkeit und die Stärke des Steckens zu bedenken. Daß nicht die Resignation der unerschöpften Tiefe ihn am Ende seiner Bahn über¬ rascht, angstvoll, tödlich, gehe er mutig aus mit dieser Erwartung auf nichts. Jeder Schritt am Wege ist dann Gewinn. Der Weg ist schließlich doch der Sinn des Zieles. Sturm Roman Max Ludwig von^Sechste Fortsetzung) Auf Borküll waren die Sympathien für Kirsch im Steigen. An allen Ecken und Enden fehlte seine Gegenwart. Baronin Clementine hatte geradezu Sehnsucht nach den Grobheiten des Verwalters, die sie früher wiederholt für ihre Zustände verantwortlich gemacht hatte. Es war eine Art Schreckensregiment, das er führte, aber doch ein Regiment. Die Damen befanden sich zwar in ständigen Protest dagegen, aber sie hatten doch nicht dieses gräßliche Gefühl der Unsicherheit, das sie jetzt beherrschte. Täglich hatte sich Baronin Clementine telephonisch mit dem Revaler Krankenhaus verbinden lassen und war über die fortschreitende Genesung ihres Verwalters auf dem laufenden. Als sie erfuhr, daß er das Spital verlassen hatte, erwartete sie seine Ankunft jeden Augenblick. Der Brief des Küsters Frey an die Gräfin Schildberg wirkte nieder- schmetternd: Kirsch war spurlos verschwunden. 3*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326169/47>, abgerufen am 26.12.2024.