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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

[Beginn Spaltensatz]

unbekannt waren, die Erbschaft zuwendet.
In diesen Fällen ist die Gesamtheit näher
zur Erbschaft. Von dem Volke, in dem wir
leben, hängen wir nicht nur in unserem
ganzen Denken und Fühlen ab, sondern wir
verdanken dem organisierten Volke, dem Staat,
für den Erwerb und die Erhaltung unseres
Vermögens mehr als, abgesehen bon unseren
Eltern, irgendeinem Verwandten. So ist es
denn ein gerechtfertigter Mittelweg: die Erb¬
schaft falle an die Personen, die mit dem
Erblasser in engem persönlichen LebenSver-
HSltnis gestanden haben, sonst aber an die
B. Gemeinschaft, in der er gelebt hat.

5adore Literatur
Neue Romane und Novellen.

Die Ernte,
die das letzte Jahr uns in der erzählenden
Kunst gebracht hat, ist im ganzen nicht son¬
derlich erfreulich gewesen. Es liegt wie eine
leichte Müdigkeit über dem Schaffen unserer
Romandichter und Novellisten, und wenn man
sich umschaut, so findet man als weit über¬
ragendes Werk nur Walter von Molos
Schillerroman "Ums Menschentum" (Berlin,
Schuster u. Löffler). Molo ist eins der wenigen
Talente, denen eine aufstrebende und sichere Be¬
gabung verliehen ist; er ist mit jedem Buche
weitergekommen, hat endlich seine Neigung
zu gequälten Problemstellungen überwunden
und in der Erfassung Schillers mit stärkstem
nachempfinden eine psychologische und ge¬
schichtliche Leistung vollbracht, die, so weit wir
sehen können, die Gewähr der Dauer in sich
trägt. Hier empfindet man einmal die völlige
innere Notwendigkeit des Geschaffenen, ein
Werk, das ohne Suchen aus der lebendigen
Erfassung des Lebendigsten hervorgewachsen
ist. Nur zu leicht irren sonst unsere Dichter
ob, verlieren sich vom eigenen Wege oder
kommen durch eine gewisse innere Unsicherheit
nicht zur vollen Aussprache. Wenn für irgend¬
einen, so gilt das für den reich beanlagten
Thomas Mann. Die Ängstlichkeit und leise
Abwehr gegenüber dem wirklichen Leben, mit
dem er nicht recht fertig zu werden weiß,
sprachen im Grunde schon aus dem feinen
Buche von den "Buddenbrooks" -- sie sind
in der neuen Novelle "Der Tod in Venedig"
<Berlin, S. Fischer) wieder deutlich spürbar.
Wenn man diese Geschichte von dem deutschen

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Dichter durckigelesen hat, der in Venedig einen
schönen Polnischen Knaben lieb gewinnt, ohne
ihn jemals zu sprechen, so fragt man sich er¬
staunt, ob diese durchdestillierte Kunst noch
mit dem Leben etwas zu tun hat. Man ver¬
spürt immer wieder eine feine Künstlerhand,
die zu formen weiß, und dennoch liegt eine
ungesunde Verfärbung über dem Ganzen,
eine geklügelte Hälschelung seltsamer Empfin¬
dungen, die doch keineswegs etwa die Stärke
wirklicher Romantik besitzen. Das Dichter¬
bild, das Mann zeichnet, ist nicht recht glaub¬
haft -- Aschenbach, sein Held, ist schließlich
doch ein Artist und kein Künstler; wir glauben
nicht an die Wirkung, die angeblich von ihm
ausgeht.

Ganz nah verwandt ist diesem Buch Jakob
Wassermanns kleiner Roman "Der Mann
von vierzig Jahren" (Berlin, S. Fischer). Man
ist förmlich erstaunt, wenn in dieses Buch
Plötzlich der Krieg von 1370 hineinschlägt --
so unwirklich und verschoben ist alles in ihm,
so übel wirkt der Erotismus des Ganzen, der
in Arthur Schnitzlers "Frau Beate und ihr
Sohn" (Berlin, S. Fischer) noch viel be¬
herrschender und unsympathischer durchschlägt.
Ist denn das Leben wirklich nur eine Kette
sinnlicher Erregungen, ein Hin und Her von
halben und ganzen Verführungen, wie es uns
Schnitzler schon in seinem Drama vom weiten
Land glauben machen wollte? Und wie klingt
dies Werk aus, in dem eine noch lebensvolle
Witwe dem jungen Kameraden ihres Sohnes
und dieser Sohn, hart neben ihr, einer Aben¬
teurerin zum Opfer fällt!

Ein sehr ernstes Ringen ist in einem
anderen Österreicher, Hans Hart. Sein erster
Hochschulroman war noch recht stark von sen¬
sationellen Grundstoffen durchsetzt, sein neuer
Roman aus ähnlichem Unikreis, "Das Haus
der Titanen" (Leipzig, L. Staackmann), leidet
auch noch unter allzugroßer Breite; auch hier
übertreibt Hart zuweilen und stellt die Dinge
zu sehr auf die Spitze -- aber die Knechtung
eines anders gerichteten Geistes durch den
fast schon körperlichen Druck von lauter bru¬
talen Willensmenschen hat er doch nicht ohne
Glück dargestellt. Diese Titanen stampfen
sieghaft durchs Leben, mögen sie nun Pro¬
fessoren oder Bäcker sein, und was sich in
den Rahmen des Hauses nicht fügt, geht

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

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unbekannt waren, die Erbschaft zuwendet.
In diesen Fällen ist die Gesamtheit näher
zur Erbschaft. Von dem Volke, in dem wir
leben, hängen wir nicht nur in unserem
ganzen Denken und Fühlen ab, sondern wir
verdanken dem organisierten Volke, dem Staat,
für den Erwerb und die Erhaltung unseres
Vermögens mehr als, abgesehen bon unseren
Eltern, irgendeinem Verwandten. So ist es
denn ein gerechtfertigter Mittelweg: die Erb¬
schaft falle an die Personen, die mit dem
Erblasser in engem persönlichen LebenSver-
HSltnis gestanden haben, sonst aber an die
B. Gemeinschaft, in der er gelebt hat.

5adore Literatur
Neue Romane und Novellen.

Die Ernte,
die das letzte Jahr uns in der erzählenden
Kunst gebracht hat, ist im ganzen nicht son¬
derlich erfreulich gewesen. Es liegt wie eine
leichte Müdigkeit über dem Schaffen unserer
Romandichter und Novellisten, und wenn man
sich umschaut, so findet man als weit über¬
ragendes Werk nur Walter von Molos
Schillerroman „Ums Menschentum" (Berlin,
Schuster u. Löffler). Molo ist eins der wenigen
Talente, denen eine aufstrebende und sichere Be¬
gabung verliehen ist; er ist mit jedem Buche
weitergekommen, hat endlich seine Neigung
zu gequälten Problemstellungen überwunden
und in der Erfassung Schillers mit stärkstem
nachempfinden eine psychologische und ge¬
schichtliche Leistung vollbracht, die, so weit wir
sehen können, die Gewähr der Dauer in sich
trägt. Hier empfindet man einmal die völlige
innere Notwendigkeit des Geschaffenen, ein
Werk, das ohne Suchen aus der lebendigen
Erfassung des Lebendigsten hervorgewachsen
ist. Nur zu leicht irren sonst unsere Dichter
ob, verlieren sich vom eigenen Wege oder
kommen durch eine gewisse innere Unsicherheit
nicht zur vollen Aussprache. Wenn für irgend¬
einen, so gilt das für den reich beanlagten
Thomas Mann. Die Ängstlichkeit und leise
Abwehr gegenüber dem wirklichen Leben, mit
dem er nicht recht fertig zu werden weiß,
sprachen im Grunde schon aus dem feinen
Buche von den „Buddenbrooks" — sie sind
in der neuen Novelle „Der Tod in Venedig"
<Berlin, S. Fischer) wieder deutlich spürbar.
Wenn man diese Geschichte von dem deutschen

[Spaltenumbruch]

Dichter durckigelesen hat, der in Venedig einen
schönen Polnischen Knaben lieb gewinnt, ohne
ihn jemals zu sprechen, so fragt man sich er¬
staunt, ob diese durchdestillierte Kunst noch
mit dem Leben etwas zu tun hat. Man ver¬
spürt immer wieder eine feine Künstlerhand,
die zu formen weiß, und dennoch liegt eine
ungesunde Verfärbung über dem Ganzen,
eine geklügelte Hälschelung seltsamer Empfin¬
dungen, die doch keineswegs etwa die Stärke
wirklicher Romantik besitzen. Das Dichter¬
bild, das Mann zeichnet, ist nicht recht glaub¬
haft — Aschenbach, sein Held, ist schließlich
doch ein Artist und kein Künstler; wir glauben
nicht an die Wirkung, die angeblich von ihm
ausgeht.

Ganz nah verwandt ist diesem Buch Jakob
Wassermanns kleiner Roman „Der Mann
von vierzig Jahren" (Berlin, S. Fischer). Man
ist förmlich erstaunt, wenn in dieses Buch
Plötzlich der Krieg von 1370 hineinschlägt —
so unwirklich und verschoben ist alles in ihm,
so übel wirkt der Erotismus des Ganzen, der
in Arthur Schnitzlers „Frau Beate und ihr
Sohn" (Berlin, S. Fischer) noch viel be¬
herrschender und unsympathischer durchschlägt.
Ist denn das Leben wirklich nur eine Kette
sinnlicher Erregungen, ein Hin und Her von
halben und ganzen Verführungen, wie es uns
Schnitzler schon in seinem Drama vom weiten
Land glauben machen wollte? Und wie klingt
dies Werk aus, in dem eine noch lebensvolle
Witwe dem jungen Kameraden ihres Sohnes
und dieser Sohn, hart neben ihr, einer Aben¬
teurerin zum Opfer fällt!

Ein sehr ernstes Ringen ist in einem
anderen Österreicher, Hans Hart. Sein erster
Hochschulroman war noch recht stark von sen¬
sationellen Grundstoffen durchsetzt, sein neuer
Roman aus ähnlichem Unikreis, „Das Haus
der Titanen" (Leipzig, L. Staackmann), leidet
auch noch unter allzugroßer Breite; auch hier
übertreibt Hart zuweilen und stellt die Dinge
zu sehr auf die Spitze — aber die Knechtung
eines anders gerichteten Geistes durch den
fast schon körperlichen Druck von lauter bru¬
talen Willensmenschen hat er doch nicht ohne
Glück dargestellt. Diese Titanen stampfen
sieghaft durchs Leben, mögen sie nun Pro¬
fessoren oder Bäcker sein, und was sich in
den Rahmen des Hauses nicht fügt, geht

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[0343] Maßgebliches und Unmaßgebliches unbekannt waren, die Erbschaft zuwendet. In diesen Fällen ist die Gesamtheit näher zur Erbschaft. Von dem Volke, in dem wir leben, hängen wir nicht nur in unserem ganzen Denken und Fühlen ab, sondern wir verdanken dem organisierten Volke, dem Staat, für den Erwerb und die Erhaltung unseres Vermögens mehr als, abgesehen bon unseren Eltern, irgendeinem Verwandten. So ist es denn ein gerechtfertigter Mittelweg: die Erb¬ schaft falle an die Personen, die mit dem Erblasser in engem persönlichen LebenSver- HSltnis gestanden haben, sonst aber an die B. Gemeinschaft, in der er gelebt hat. 5adore Literatur Neue Romane und Novellen. Die Ernte, die das letzte Jahr uns in der erzählenden Kunst gebracht hat, ist im ganzen nicht son¬ derlich erfreulich gewesen. Es liegt wie eine leichte Müdigkeit über dem Schaffen unserer Romandichter und Novellisten, und wenn man sich umschaut, so findet man als weit über¬ ragendes Werk nur Walter von Molos Schillerroman „Ums Menschentum" (Berlin, Schuster u. Löffler). Molo ist eins der wenigen Talente, denen eine aufstrebende und sichere Be¬ gabung verliehen ist; er ist mit jedem Buche weitergekommen, hat endlich seine Neigung zu gequälten Problemstellungen überwunden und in der Erfassung Schillers mit stärkstem nachempfinden eine psychologische und ge¬ schichtliche Leistung vollbracht, die, so weit wir sehen können, die Gewähr der Dauer in sich trägt. Hier empfindet man einmal die völlige innere Notwendigkeit des Geschaffenen, ein Werk, das ohne Suchen aus der lebendigen Erfassung des Lebendigsten hervorgewachsen ist. Nur zu leicht irren sonst unsere Dichter ob, verlieren sich vom eigenen Wege oder kommen durch eine gewisse innere Unsicherheit nicht zur vollen Aussprache. Wenn für irgend¬ einen, so gilt das für den reich beanlagten Thomas Mann. Die Ängstlichkeit und leise Abwehr gegenüber dem wirklichen Leben, mit dem er nicht recht fertig zu werden weiß, sprachen im Grunde schon aus dem feinen Buche von den „Buddenbrooks" — sie sind in der neuen Novelle „Der Tod in Venedig" <Berlin, S. Fischer) wieder deutlich spürbar. Wenn man diese Geschichte von dem deutschen Dichter durckigelesen hat, der in Venedig einen schönen Polnischen Knaben lieb gewinnt, ohne ihn jemals zu sprechen, so fragt man sich er¬ staunt, ob diese durchdestillierte Kunst noch mit dem Leben etwas zu tun hat. Man ver¬ spürt immer wieder eine feine Künstlerhand, die zu formen weiß, und dennoch liegt eine ungesunde Verfärbung über dem Ganzen, eine geklügelte Hälschelung seltsamer Empfin¬ dungen, die doch keineswegs etwa die Stärke wirklicher Romantik besitzen. Das Dichter¬ bild, das Mann zeichnet, ist nicht recht glaub¬ haft — Aschenbach, sein Held, ist schließlich doch ein Artist und kein Künstler; wir glauben nicht an die Wirkung, die angeblich von ihm ausgeht. Ganz nah verwandt ist diesem Buch Jakob Wassermanns kleiner Roman „Der Mann von vierzig Jahren" (Berlin, S. Fischer). Man ist förmlich erstaunt, wenn in dieses Buch Plötzlich der Krieg von 1370 hineinschlägt — so unwirklich und verschoben ist alles in ihm, so übel wirkt der Erotismus des Ganzen, der in Arthur Schnitzlers „Frau Beate und ihr Sohn" (Berlin, S. Fischer) noch viel be¬ herrschender und unsympathischer durchschlägt. Ist denn das Leben wirklich nur eine Kette sinnlicher Erregungen, ein Hin und Her von halben und ganzen Verführungen, wie es uns Schnitzler schon in seinem Drama vom weiten Land glauben machen wollte? Und wie klingt dies Werk aus, in dem eine noch lebensvolle Witwe dem jungen Kameraden ihres Sohnes und dieser Sohn, hart neben ihr, einer Aben¬ teurerin zum Opfer fällt! Ein sehr ernstes Ringen ist in einem anderen Österreicher, Hans Hart. Sein erster Hochschulroman war noch recht stark von sen¬ sationellen Grundstoffen durchsetzt, sein neuer Roman aus ähnlichem Unikreis, „Das Haus der Titanen" (Leipzig, L. Staackmann), leidet auch noch unter allzugroßer Breite; auch hier übertreibt Hart zuweilen und stellt die Dinge zu sehr auf die Spitze — aber die Knechtung eines anders gerichteten Geistes durch den fast schon körperlichen Druck von lauter bru¬ talen Willensmenschen hat er doch nicht ohne Glück dargestellt. Diese Titanen stampfen sieghaft durchs Leben, mögen sie nun Pro¬ fessoren oder Bäcker sein, und was sich in den Rahmen des Hauses nicht fügt, geht

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326169/343>, abgerufen am 26.12.2024.