Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite


T>le Menschensparkasse
<Lin wissenschaftlicher Traum

HI ah! -- welch wonniges Gefühl! Langsam löst aufsteigende
Lebenswärme die eisige Erstarrung. "Des Lebens Pulse schlagen
frisch lebendig." Das Herz pumpt seinen warmen Strom durch
den Körper; nun ist die köstliche Welle auch im Kopfe, im Ge¬
hirne angelangt. Ich denke, ich denke -- wie der erste Gedanke
aufblitzt, ist auch das Ich erwacht, das Leben, das hier aus tiefem Schlaf er¬
wacht, ist zu meinem Leben geworden. "Ich denke, also bin ich" -- so sagte
schon Descartes.

Ich schlage die Augen auf und sehe in ein kluges, ernstes Gelehrtengesicht.
Zwei klare und scharfblickende Augen schauen durch zwei große Brillengläser
hindurch mich prüfend an. "Wie fühle" Sie sich? Können Sie sich bewegen?"
fragt eine tiefe Stimme. Ich recke mich und strecke die Arme empor. "Ich
habe wohl lange geschlafen?" -- "Ja lange, sehr, sehr lange, einundsicbzig Jahre:
1913 legten Sie sich hin, heute schreiben wir den 20. Juli 1984." Ich reibe
nur die Augen, kreise mich selbst in den Arm, fühle nach meinem Kopfe --
nein, ich schlafe nicht! "Wo bin ich?" -- "In der Menschensparkasse, mein
Herr!" -- "In der Meee. . .???" -- "Bitte stehen Sie auf und folgen Sie
mir in mein Arbeitszimmer, ich will Ihnen alles erklären. Lassen Sie mich
ruhig sprechen. Fragen Sie nicht viel, sondern hören Sie mich ruhig an. So
werden Sie all das Neue, Überraschende, scheinbar Unglaubliche, das ich Ihnen
zu sagen habe, am schnellsten, leichtesten und unter der geringsten Gefahr für
Ihr körperliches und geistiges Wohlbefinden in sich aufnehmen." Der Mann
spricht in einem Tone, dem man nicht leicht sich zu widersetzen wagt. Ich er¬
hebe mich also von meinem Lager und folge ihm. Er verläßt das Zimmer
und wir betreten einen langen Gang. Es muß ein gewaltiges Gebäude sein,
diese "Menschensparkasse", die wir da durchschreiten. Die saubere, einfache Ein¬
richtung, die Männer und Frauen in Krankenpflegerkleidung, die fast geräuschlos
an uns vorübergleiten, sowie ein leichter Karbolgeruch erinnern an ein Hospital.
Dem widersprechen nur die merkwürdigen Aufschriften auf den verschlossenen
Saaltüren: Jahresklasse 1984. 1985 usw. Das sieht mehr nach Kaserne aus!


21"


T>le Menschensparkasse
<Lin wissenschaftlicher Traum

HI ah! — welch wonniges Gefühl! Langsam löst aufsteigende
Lebenswärme die eisige Erstarrung. „Des Lebens Pulse schlagen
frisch lebendig." Das Herz pumpt seinen warmen Strom durch
den Körper; nun ist die köstliche Welle auch im Kopfe, im Ge¬
hirne angelangt. Ich denke, ich denke — wie der erste Gedanke
aufblitzt, ist auch das Ich erwacht, das Leben, das hier aus tiefem Schlaf er¬
wacht, ist zu meinem Leben geworden. „Ich denke, also bin ich" — so sagte
schon Descartes.

Ich schlage die Augen auf und sehe in ein kluges, ernstes Gelehrtengesicht.
Zwei klare und scharfblickende Augen schauen durch zwei große Brillengläser
hindurch mich prüfend an. „Wie fühle« Sie sich? Können Sie sich bewegen?"
fragt eine tiefe Stimme. Ich recke mich und strecke die Arme empor. „Ich
habe wohl lange geschlafen?" — „Ja lange, sehr, sehr lange, einundsicbzig Jahre:
1913 legten Sie sich hin, heute schreiben wir den 20. Juli 1984." Ich reibe
nur die Augen, kreise mich selbst in den Arm, fühle nach meinem Kopfe —
nein, ich schlafe nicht! „Wo bin ich?" — „In der Menschensparkasse, mein
Herr!" — „In der Meee. . .???" — „Bitte stehen Sie auf und folgen Sie
mir in mein Arbeitszimmer, ich will Ihnen alles erklären. Lassen Sie mich
ruhig sprechen. Fragen Sie nicht viel, sondern hören Sie mich ruhig an. So
werden Sie all das Neue, Überraschende, scheinbar Unglaubliche, das ich Ihnen
zu sagen habe, am schnellsten, leichtesten und unter der geringsten Gefahr für
Ihr körperliches und geistiges Wohlbefinden in sich aufnehmen." Der Mann
spricht in einem Tone, dem man nicht leicht sich zu widersetzen wagt. Ich er¬
hebe mich also von meinem Lager und folge ihm. Er verläßt das Zimmer
und wir betreten einen langen Gang. Es muß ein gewaltiges Gebäude sein,
diese „Menschensparkasse", die wir da durchschreiten. Die saubere, einfache Ein¬
richtung, die Männer und Frauen in Krankenpflegerkleidung, die fast geräuschlos
an uns vorübergleiten, sowie ein leichter Karbolgeruch erinnern an ein Hospital.
Dem widersprechen nur die merkwürdigen Aufschriften auf den verschlossenen
Saaltüren: Jahresklasse 1984. 1985 usw. Das sieht mehr nach Kaserne aus!


21»
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0335" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/326505"/>
          <figure facs="http://media.dwds.de/dta/images/grenzboten_341897_326169/figures/grenzboten_341897_326169_326505_000.jpg"/><lb/>
        </div>
        <div n="1">
          <head> T&gt;le Menschensparkasse<lb/>
&lt;Lin wissenschaftlicher Traum </head><lb/>
          <p xml:id="ID_1625"> HI ah! &#x2014; welch wonniges Gefühl! Langsam löst aufsteigende<lb/>
Lebenswärme die eisige Erstarrung. &#x201E;Des Lebens Pulse schlagen<lb/>
frisch lebendig." Das Herz pumpt seinen warmen Strom durch<lb/>
den Körper; nun ist die köstliche Welle auch im Kopfe, im Ge¬<lb/>
hirne angelangt. Ich denke, ich denke &#x2014; wie der erste Gedanke<lb/>
aufblitzt, ist auch das Ich erwacht, das Leben, das hier aus tiefem Schlaf er¬<lb/>
wacht, ist zu meinem Leben geworden. &#x201E;Ich denke, also bin ich" &#x2014; so sagte<lb/>
schon Descartes.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1626"> Ich schlage die Augen auf und sehe in ein kluges, ernstes Gelehrtengesicht.<lb/>
Zwei klare und scharfblickende Augen schauen durch zwei große Brillengläser<lb/>
hindurch mich prüfend an. &#x201E;Wie fühle« Sie sich? Können Sie sich bewegen?"<lb/>
fragt eine tiefe Stimme. Ich recke mich und strecke die Arme empor. &#x201E;Ich<lb/>
habe wohl lange geschlafen?" &#x2014; &#x201E;Ja lange, sehr, sehr lange, einundsicbzig Jahre:<lb/>
1913 legten Sie sich hin, heute schreiben wir den 20. Juli 1984." Ich reibe<lb/>
nur die Augen, kreise mich selbst in den Arm, fühle nach meinem Kopfe &#x2014;<lb/>
nein, ich schlafe nicht! &#x201E;Wo bin ich?" &#x2014; &#x201E;In der Menschensparkasse, mein<lb/>
Herr!" &#x2014; &#x201E;In der Meee. . .???" &#x2014; &#x201E;Bitte stehen Sie auf und folgen Sie<lb/>
mir in mein Arbeitszimmer, ich will Ihnen alles erklären. Lassen Sie mich<lb/>
ruhig sprechen. Fragen Sie nicht viel, sondern hören Sie mich ruhig an. So<lb/>
werden Sie all das Neue, Überraschende, scheinbar Unglaubliche, das ich Ihnen<lb/>
zu sagen habe, am schnellsten, leichtesten und unter der geringsten Gefahr für<lb/>
Ihr körperliches und geistiges Wohlbefinden in sich aufnehmen." Der Mann<lb/>
spricht in einem Tone, dem man nicht leicht sich zu widersetzen wagt. Ich er¬<lb/>
hebe mich also von meinem Lager und folge ihm. Er verläßt das Zimmer<lb/>
und wir betreten einen langen Gang. Es muß ein gewaltiges Gebäude sein,<lb/>
diese &#x201E;Menschensparkasse", die wir da durchschreiten. Die saubere, einfache Ein¬<lb/>
richtung, die Männer und Frauen in Krankenpflegerkleidung, die fast geräuschlos<lb/>
an uns vorübergleiten, sowie ein leichter Karbolgeruch erinnern an ein Hospital.<lb/>
Dem widersprechen nur die merkwürdigen Aufschriften auf den verschlossenen<lb/>
Saaltüren: Jahresklasse 1984. 1985 usw. Das sieht mehr nach Kaserne aus!</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> 21»</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0335] [Abbildung] T>le Menschensparkasse <Lin wissenschaftlicher Traum HI ah! — welch wonniges Gefühl! Langsam löst aufsteigende Lebenswärme die eisige Erstarrung. „Des Lebens Pulse schlagen frisch lebendig." Das Herz pumpt seinen warmen Strom durch den Körper; nun ist die köstliche Welle auch im Kopfe, im Ge¬ hirne angelangt. Ich denke, ich denke — wie der erste Gedanke aufblitzt, ist auch das Ich erwacht, das Leben, das hier aus tiefem Schlaf er¬ wacht, ist zu meinem Leben geworden. „Ich denke, also bin ich" — so sagte schon Descartes. Ich schlage die Augen auf und sehe in ein kluges, ernstes Gelehrtengesicht. Zwei klare und scharfblickende Augen schauen durch zwei große Brillengläser hindurch mich prüfend an. „Wie fühle« Sie sich? Können Sie sich bewegen?" fragt eine tiefe Stimme. Ich recke mich und strecke die Arme empor. „Ich habe wohl lange geschlafen?" — „Ja lange, sehr, sehr lange, einundsicbzig Jahre: 1913 legten Sie sich hin, heute schreiben wir den 20. Juli 1984." Ich reibe nur die Augen, kreise mich selbst in den Arm, fühle nach meinem Kopfe — nein, ich schlafe nicht! „Wo bin ich?" — „In der Menschensparkasse, mein Herr!" — „In der Meee. . .???" — „Bitte stehen Sie auf und folgen Sie mir in mein Arbeitszimmer, ich will Ihnen alles erklären. Lassen Sie mich ruhig sprechen. Fragen Sie nicht viel, sondern hören Sie mich ruhig an. So werden Sie all das Neue, Überraschende, scheinbar Unglaubliche, das ich Ihnen zu sagen habe, am schnellsten, leichtesten und unter der geringsten Gefahr für Ihr körperliches und geistiges Wohlbefinden in sich aufnehmen." Der Mann spricht in einem Tone, dem man nicht leicht sich zu widersetzen wagt. Ich er¬ hebe mich also von meinem Lager und folge ihm. Er verläßt das Zimmer und wir betreten einen langen Gang. Es muß ein gewaltiges Gebäude sein, diese „Menschensparkasse", die wir da durchschreiten. Die saubere, einfache Ein¬ richtung, die Männer und Frauen in Krankenpflegerkleidung, die fast geräuschlos an uns vorübergleiten, sowie ein leichter Karbolgeruch erinnern an ein Hospital. Dem widersprechen nur die merkwürdigen Aufschriften auf den verschlossenen Saaltüren: Jahresklasse 1984. 1985 usw. Das sieht mehr nach Kaserne aus! 21»

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326169
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326169/335
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326169/335>, abgerufen am 26.12.2024.